Politischer Schamanismus

„Rechtsradikalismus“ – das ist eine Erklärung, die nichts erklärt. Es geht nicht um eine Vergiftung durch Ideen. Die gewalttätigen Jugendlichen sehnen sich nach Anerkennung

Folgt die Drohung „Nazis raus“ nicht der gleichen Grammatik wie „Ausländer raus“ oder „Juden raus“?

Weimar, Ende Mai. Eine Innenstadt voll bunter Fahnen, Wimpel und Fähnchen. Überall Transparente, selbst gemalte und professionell gestaltete. Darauf zwei Typen von Parolen. Einmal: Bunt gegen braun. Und zum anderen: Nazis raus. Fürs Wochenende war eine NPD-Demonstration angemeldet. Das Stadtbild sah munter aus, kräftig und ermutigend. Graue DDR und neuer Konsumglanz wirkten für einen Moment wie Charakterfarben auf diesem mehrfach übermalten deutschen Gemälde, Weimar.

Am Wochenende folgte dann auf dem Bahnhof eine gespenstische Inszenierung. Wir wurden mit Bussen vom Schloss Belvedere auf Umwegen dorthin gebracht. Wir, das waren Teilnehmer eines Kongresses, der drei Tage lang klug übers Thema Lernen debattiert hatte. In den Straßen sammelten sich Demonstranten gegen rechts. Die Stadt wirkte noch bunter, kräftiger und sympathischer. Der Bahnhof allerdings glich einem militärischen Sperrgebiet. Jeder Bahnsteig war besetzt von Bundesgrenzschutzbeamten. Mit ihren bulligen Helmen und ihren von schusssicheren Westen viereckigen Oberkörpern, mit Kabel am Ohr, Mikrofonbügel vorm Mund und demonstrativ baumelnden Schusswaffen am Gürtel sahen sie aus wie Krieger aus einer interplanetarischen Sciencefiction-Serie. Wenn ein Zug kam, wurde der Bahnsteig noch grüner von der Reserve aus der Unterführung.

Und dann stiegen aus den Zügen kleine Meuten von Jüngelchen aus, kaum Mädchen, zumeist Glatzen, nur wenige älter als zwanzig, in Bomberjacken und Springerstiefeln, der Aufzug, wie man ihn aus Spiegel-TV kennt. Sofort bildeten sich um die milchbärtigen, etwas maliziös grinsenden Jungs Kordons der grünen Schränke. Es kamen etwa drei bis fünf Beamte auf einen dieser Jungs, die – ich gestehe es – mich in diesem Augenblick anrührten: diese aufgedonnerten Schwächlinge, diese Findelkinder, wirklich von allen guten Geistern verlassene, weltlose Gestalten, die nun das Ungeheuer spielen.

Wie ein böser Bazillus wurden sie in Weimar von den Killerzellen des Immunsystems eingeschlossen und durch die Stadt zu ihrem Demonstrationsplatz geleitet. Ein absurdes Schauspiel. Denn wie könnte man den Wunschwahn dieser Jungs, dass doch irgendetwas an ihnen dran sein muss, besser bestätigen als mit solch einem Empfang?

Ich überlegte auf der langen Zugfahrt zurück nach Hamburg: Wie könnte man besser reagieren und dieser paranoiden Provokation nicht derart auf den Leim gehen, dass diese Horden als politische Macht anerkannt und gestärkt werden? Welche andere Anerkennung und eben auch Bejahung, dass an ihnen etwas dran ist, wäre denn denkbar? Die Frage verschwand wieder von meiner Tagesordnung.

Einige Wochen später, nach dem Anschlag in Düsseldorf, war plötzlich „der Rechtsradikalismus“ in aller Politiker Munde und nährte die Medien. Besorgt sind die Standortverteidiger aller Couleur, die sich sonntagabends bei der nun auch sehr betroffenen Frau Christiansen treffen. Ist ihnen denn wirklich nicht seit Jahren bekannt, welche Geschichten ausländische Wissenschaftler zum Beispiel nach Deutschlandaufenthalten erzählen? Lassen wir das. Man könnte ja sagen, nun endlich werde diese Seite des hässlichen deutschen Doppelkopfes wahrgenommen. Aber wird sie denn wahrgenommen?

Dieses Wort „Rechtsradikalismus“, das nach der noch immer ungeklärten Hasstat in Düsseldorf nun von überall tönt, hilft so wenig weiter wie ein NPD-Verbot. Es ist ein typisches Beispiel für die grotesk verschobenen Debatten und politischen Empfindungen in Deutschland, die Alexander Kluge einmal so erklärt hat: „Die Tatsache, dass wir in unserem Land immer an den falschen Momenten erschüttert sind und zu den richtigen Momenten diese Erschütterung nicht aufbringen, ist Folge davon, dass wir das Politische als Sachgebiet, das die anderen für uns besorgen, auffassen, und nicht als einen Intensitätsgrad unserer eigenen Gefühle.“

Stellen wir uns vor, morgen würden die Polizeiermittlungen in Düsseldorf ergeben, dass kein Rechtsradikaler, kein irgendwie ideologisch verleiteter Mensch den Anschlag auf seinem Gewissen hat, sondern eben nur einer, der kein Gewissen hat? Jemand wie zum Beispiel der 16-jährige Frank aus Wolfen in Sachsen-Anhalt, der am 11. Juni mit seiner Lynchmeute den Afrikaner Alberto Adriano im Park von Dessau in einem unglaublichen Exzess zu Tode trat. Wie andere perverse Gewalttäter aus der rechten Szene zeigt er keine Reue. Ihrem so grenzenlosen wie namenlosen Hass stecken die Mörder nachträglich das rechte Fähnchen auf.

Der Hass ist nicht das Ergebnis einer Vergiftung durch rechte Ideen oder Ideologien, eben durch jenen Rechtsradikalismus, dem jetzt von überall her der Kampf angesagt wird. Führt das Erklärungsmodell „Rechtsradikalismus“ nicht im Diskurs der Öffentlichkeit zu einer ganz ähnlichen Ablenkung und Verschiebung des Blicks wie die rechten Symbole und Hasssprüche, die den Tätern zur Legitimation und nachträglichen Namensgebung dienen? Ist „Rechtsradikalismus“ nicht nur der Bannfluch eines politisch-medialen Schamanimus?

Und wenn wir auf dieses Wort verzichten, was dann? Wenn die „Milieuschäden so viel verheerender sind als bisher angenommen“, wie Micha Hilgers an dieser Stelle am 3. August schrieb, und gar „zu dauerhaften biologischen Hirnveränderungen führen“, dann kann man wohl gar nichts mehr machen, außer eben wegsperren. Mag sein, dass dies im Einzelfall die letzte Möglichkeit ist. Aber mit der Pathologisierung einer, wenn auch perversen, Subkultur machen wir es uns doch etwas zu leicht. So superleicht, wie es sich der kleine Napoleon von der Leine in diesen Tagen bei seiner Osttour macht, wenn er täglich wiederholt, die NPD komme nicht aus dem Osten, sondern aus dem Westen.

Diese ganze Das-kommt-davon-Argumentation erklärt nichts und lässt uns gar nichts erkennen. Erkenntnis sozialer und kultureller Prozesse geht nicht ohne wenigstens minimale Selbsterkenntnis. Lloyd de Mause, der New Yorker Psychohistoriker, schrieb, man könne Hitler nicht analysieren, wenn man nicht wenigstens Spurenelemente der Hitlerei in sich wiederfindet. Das müssen ja nicht Überzeugungen sein. Aber ist dieses superschnelle Ausgrenzen, dieser Wunsch, das Böse weit von sich zu weisen, es dort zu stellen und dann „brutalstmöglich“ zu vernichten, nicht ein Verwandtschaftsverhältnis, das uns als Zugehörige des gleichen Stammes ausweist?

Man kann Hitler nicht analysieren, wenn man nicht wenigstens Spurenelemente der Hitlerei in sich wiederfindet

Es ist ja außerdem was dran, wenn Wolfgang Büscher (Die Welt) Zeichen einer Jugendrevolte von rechts erkennt. Ihr Gewaltfetischismus, der Kult von Einreißen und Destruktion ist die Ultima Irratio, die letzte Form des Handelns, die aufschäumt, wenn die konstruktiveren verschlossen sind oder nie kennen gelernt wurden. Handeln, das Hannah Arendt von Arbeit und Herstellen unterschied, ist die Tätigkeit, in der Neues zur Welt kommt. Sie ist in mehr als einer sozialen und kulturellen Provinz unseres Lebens so bedroht wie Pflanzen auf der roten Liste.

Ich denke immer wieder zurück an Weimar Ende Mai und an die beiden Strömungen in der Stadt: „Bunt gegen braun“ und „Nazis raus“. Bunt gegen braun, dies versprach eine Alternative zu jenem ungelebten Leben, dessen Kinder sich in den Perversionen der rechten Subkultur Sensationen verschaffen wollen, um sich selbst noch irgendwie zu spüren. Bunt ist Plural, bunt ist das risikoreiche Leben mit seinen Möglichkeiten der Verwandlungen durch Einschluss. Auf der anderen Seite die Drohung „Nazis raus“. Folgt dieser unerbittliche Totalausschluss nicht der gleichen Grammatik wie „Ausländer raus“ oder „Juden raus“, all diese Ankündigungen von Vernichtung, die mit Versprechungen von Reinheit daherkommen?

Hannah Arendt analysierte vor bald 40 Jahren an Adolf Eichmann die Banalität des Bösen. Dieser Mensch konnte nur vollstrecken. Der gewissenlose Funktionär war völlig unfähig, wie sie schrieb, sich an die Stelle eines anderen zu versetzen. Aber dieses, sich an die Stelle eines anderen versetzen zu können oder, wie der Gewaltforscher Wilhelm Heitmeyer immer wieder fordert, eine Kultur der Anerkennung, die die Gewalttäter gewöhnlich ja nicht erfahren haben, diese Alternative müsste doch von der Zivilgesellschaft im „Kampf gegen rechts“ ausgehen, und diese Botschaft müsste auch für diese perversen Subkulturen spürbar werden. Denn das Ziel, das jemand hat, zeigt sich verlässlich nur in der Art, wie er es anstrebt. Und da verspricht die Dämonisierung von Rechtsradikalismus und die gleichzeitige Verleugnung der diffus zirkulierenden Hasspotenziale gar nichts Gutes. REINHARD KAHL