Der Pferdeflüsterer

Da haben Sie gelogen, Mr. Nietzsche! Richard Foreman widmet dem Philosophen ein Bühnenstück: „Bad Boy Nietzsche“ im Hebbel-Theater

von DETLEF KUHLBRODT

Komisch, dass man Todestage zu feiern pflegt; andererseits nicht weniger seltsam, die Geburtstage von Leuten zu feiern, die längst schon tot sind. Nietzsche feierte dieser Tage seinen 100. Todestag, und Richard Foreman, der „Doyen der New Yorker Theateravantgarde“ (Theater heute), der Ende der 60er-Jahre sein berühmtes Ontolical-Hysteric Theatre gründete und vor zwei Jahren mit seinem „Hotel Fuck“ auch in Berlin reüssierte, hat ihm ein Stück gewidmet.

Erwartungsgemäß versucht Foreman in 70 Minuten „Bad Boy Nietzsche“ nicht, das Denken des Philosophen abzubilden oder die Wege der Ver- und Missverständnisse – „Übermensch“ (das englische „Superman“ klingt unverfänglicher), blonde Bestie, Willen zur Macht usw. – nachzuzeichnen. Zitate aus seinen philosophischen Werken sucht man vergebens; ab und an nur mal gibt es Gedichtzeilen oder Halbsätze aus Briefen; ansonsten eher: Delirien, Assoziationen.

Das Stück bezieht sich auf die Zeit zwischen 1889 und 1900, in denen der schriftstellernde Philosoph in den Wahnsinn gefallen war und seine Briefe wahlweise mit „der Gekreuzigte“ oder auch „Dionysos“ unterschrieb und den bedenkenswerten Satz „Ich habe meinen Regenschirm vergessen“ notierte, über den Jacques Derrida einen brillanten Aufsatz schrieb. Ausgangs-, Dreh- und Angelpunkt ist die berühmte Turiner Begebenheit von 1889: der schmächtige Philosoph, der sich entsetzt dazwischenwarf, als ein Fuhrmann sein Pferd schlug, und danach völlig zusammenbrach. Diese Szene wird ständig zitiert. Im jahrmarktsbudenhaften Bühnenbild hängt ein Pferdchen aus Stoff herum, das immer wieder herumgezerrt, ausgepeitscht oder auch geherzt wird.

Das Bühnenbild ist stimmig und erinnert atmosphärisch an die „Zimtläden“ von Bruno Schulz. Alles ist sehr symbolisch und wirkt in seiner Symbolik auch wieder ein bisschen naiv: In einer Szene wackelt im Hintergrund ein Schiff aus Pappe herum, und Nietzsche wähnt sich plötzlich in China. Das sei eine Anspielung darauf, dass „seine Ideen die Welt auf den Kopf gestellt hätten“, so Foreman, der auch sagte, dass er sich „vollkommen“ mit Nietzsche identifziere. Schleef macht das ja auch, allerdings intensiver.

Nacherzählen lässt sich das Acht-Personen-Stück kaum: Am Anfang wackelt Nietzsche – schön gegeben von Gary Wilmes – ein wenig irre, ein bisschen Monty-Python’s-haft und zudem auch rührend mit Schlafmütze durchs Bühnenbild. „Das Kind“ (Sarah Louise Lilley), das an Lou Andreas Salomé erinnern will, gibt zu bedenken, ob er denn auch wirklich Nietzsche, der Philosoph mit dem Hammer und Wertezertrümmerer, sei. Gute Frage an einen, der die Identitätskonzepte der Lüge zieh. Er antwortet: „Guess“, was auch wie „yes“ klingt. Später stellt er sich auch mal vor eine weiße Pappwand, und es geht darum, dass er sich von der Vorstellung, die andere von ihm haben, nicht bestimmen lassen möchte. „Die schöne Frau“ (Juliana Francis, die schon beim „Hotel Fuck“ mit dabei war) gibt zu bedenken, dass, wer keinen Sex macht, auch nicht angemessen denken könnte; „der grausame Mann“ (Kevin Hurley) und seine finstren Gehilfen schlagen den passiven Philosophen gern. Eierförmige Nachtmare gibt’s auch irgendwann und slapstickhafte Dialoge, in denen es etwa darum geht, ob Nietzsche in sein hochsymbolisch heiliges Brot nun „Jewels“ oder „Jews“ hineingebacken hat.

Schöne Details reihen sich aneinander, ohne mehr als amüsant auf schicker Bühne zu sein. Am Ende steigt Nietzsche in den Panzer und sagt, er komme da nie wieder raus. Dann schlagen die anderen das Pferd vor dem Panzer. Dann kommt er doch wieder raus; „das Kind“ ist enttäuscht: „You lied to us, Mr. Nietzsche“, und Nietzsche antwortet in seiner somnambul-grüblerischen Art: „Ja. Aber wie ist das möglich. Ich lüge doch nie.“

Die Worte, mit denen Foreman die Schlussszene erklärt, sind von berückender Naivität: „Nietzsche hatte sich in seinem Wahnsinn eingeschlossen, aber er kam zurück. Seine Philosophie ist nun dominant in der westlichen Welt.“

Hebbel-Theater, 1. 9., 20 Uhr, 2. 9., 19 Uhr und 20 Uhr