Kulturoptimisten unter sich

Tradition und Postmoderne: Unter dem Motto „Jahrhundertklang“ und mit vielen Konzerten präsentieren die Festwochen im Herbst die Musik des 20. Jahrhunderts

Morton Feldman stellte eine Gruppe von Studenten einmal vor die Frage, wer der bessere Komponist sei: Pierre Boulez oder John Cage? Die Studenten überlegten nicht lange und entschieden sich einhellig für Pierre Boulez. Feldman geriet in Rage und brüllte: „Doch nur, weil ihr es alles schon vorher mal gehört habt!“ Feldmans ungehaltene Replik wirft die Frage nach authentischer Erneuerung auf. Sie unterstellt Boulez einen lähmenden Hang zur Tradition und verklärt Cage zum Befreier der Musik. Cages Neuerungen wären, folgt man Feldman, von einer solchen Radikalität, dass sie dem gemeinen Verständnis „guten Komponierens“ entglitten.

Nur eine einzige Frau

Wenn sich nun die Berliner Festwochen zur 50. Jubiläumsausgabe den „Jahrhundertklang“ – gemeint ist das 20. Jahrhundert – auf die Fahnen schreiben, dann stehen Probleme der Tradition, der Innovation und der Kanonbildung schnell ungebeten im Raum. Ein flüchtiger Blick auf das Programm wirft ungezählte Fragen auf: Wo ist die elektronische Musik, wo die Klangkunst geblieben? Warum wird England auf Benjamin Britten, Spanien auf Manuel de Falla reduziert? Und schlimmer noch: Warum findet sich unter 83 porträtierten Komponisten nur eine einzige Frau, wo doch gerade das 20. Jahrhunderts das Komponistenfach von männlicher Herrschaft befreit hat?

Die Antwort auf diese Fragen findet man zum einen in der störrischen wie unvermeidlichen Pragmatik des Konzertwesens. Es kann nur aufgeführt werden, was die willigen Interpreten zuvor geübt haben. Zum anderen ist der Veranstalter zwangsläufig ein Kulturoptimist: Es gibt so viel tolle Musik. Warum an selbstzerstörerischen Zweifeln zugrunde gehen?

Das Programm der Festwochen präsentiert ein üppiges Tableau. Die Komponistenporträts stehen weitgehend bezugslos nebeneinander. Es bleibt dem auf historische Kausalität fixierten Blick überlassen, die musikalischen Stile in einen geordneten Zusammenhang zu setzen. Wo also liegt das Epizentrum des Bebens, das die Musik des 20. Jahrhunderts erschütterte und dessen Nachhall den „Jahrhundertklang“ bedeutet?

Man muss kein bornierter Reaktionär sein, um in Arnold Schönberg die herausragende Persönlichkeit des vergangenen Jahrhunderts zu erkennen. Man bringt die Musik von der Spätromantik bis zur Postmoderne am ehesten auf einen gemeinsamen Nenner, wenn man die Fäden in der Person des Wiener Komponisten zusammenlaufen lässt: im quälenden Traditionsbewusstsein, im unerschütterlichen Willen zur Innovation, in der Querelle mit den Zeitgenossen Bartók und Strawinsky und nicht zuletzt in der ungeheuren Wirkung, die Schönberg als Lehrer und Theoretiker entfaltete.

Schönbergs Frühwerk, das dunkle Timbre seiner spätromantischen Partituren, zeugt davon, dass die Tonalität mit dem Ausgang des 19. Jahrhunderts noch lange nicht ausgedient hatte. Der expressionistische Schönberg der 10er-Jahre hingegen überwand die diskursive Stringenz, mit der das 19. Jahrhundert die Musik belastet hatte. Angelpunkt der schönbergschen Hinterlassenschaft bleibt die Zwölftontechnik. Die zahlenfixierte Reihentechnik behält ihre Gültigkeit bis heute und weit über den Serialismus hinaus.

Aber weitere ästhetische Wenden hat die Schönberg-Schule allenfalls gestreift. Zwar konnte Anton Weberns Konzept der Klangfarbenmelodie das Bewusstsein für Modulationen jenseits harmonischer und rhythmischer Verläufe schärfen. Das Verständnis für die Feinheiten artikulatorischer Varianten ging aber wesentlich vom französischen Impressionsmus aus. Das Ende jenes Denkens, das auf dem Raster der Tonhöhen-Tondauern-Konstellationen beruht, wird von Schönberg her bestenfalls noch als Einspruch gegen ihn verständlich.

Diese Entwicklung wird schließlich vom Schönberg-Schüler Cage vollendet. Die ästhetischen Revolte der 60er-Jahre hebt die Parameter der westlichen Musik auf; der Werkbegriff wird suspendiert. Dieser Schritt leitet, sofern man sich der postmodernen Ideologie unterwirft, das vorläufige Ende der Musikgeschichte ein.

Die Tradition ist abgerissen

Die Verstummungstendenzen der Musica negativa, die sich in den 60er- und 70er-Jahren beobachten ließen, sind Ausdruck dieser Krise, die zwar durch eine Fülle von ästhetischen Neuentwürfen überbrückt wurde, die aber nie wirklich überwunden worden ist. Die Tradition, die mit der Entstehung der Mehrstimmigkeit und dem zählebigen Konstrukt des Opus perfectum et absolutum begann, ist, so unbescheiden es klingt, zum Ende des 20. Jahrhunderts wohl abgerissen. Die Geschichte dieses Endes heißt „Jahrhundertklang“

BJÖRN GOTTSTEIN