Nicht verfolgt?

Von den Nationalsozialisten wurde der Bielefelder Ludwig Meyer gleich in doppelter Hinsicht verfolgt: Als Homosexueller verbüßte er mehrere Gefängnisstrafen, als Jude verbrachte er sieben Jahre im KZ. Nach dem Krieg musste er um seine Entschädigung kämpfen. Denn der Paragraph 175 bestandin der Bundesrepublik unverändert fort

von NIKO EWERS

„Wieder ein Mord auf St. Pauli: Rentner erschlagen.“ So lauteten die Schlagzeilen in der Hamburger Lokalpresse im April 1975. Das Opfer, der 71-jährige Ludwig Meyer, soll „homosexuell veranlagt gewesen sein“, hieß es. In Hamburg dürfte Ludwig Meyer längst vergessen sein, zumal er noch nicht lange dort wohnte. In Hannover dagegen war er hinlänglich bekannt: als Wirt des Wielandsecks in der Glockseestraße, eines der ersten Homosexuellenlokale nach dem Krieg. In Bielefeld, Meyers Geburtsort, wusste man bisher nur, dass er 1945 nach sieben Jahren aus dem KZ zurückgekehrt war und später der Stadt den Rücken gekehrt hatte. Aus völlig verständlichen Gründen, wie sich erweisen wird.

Gehen wir also auf Spurensuche. Ludwig Meyer entstammt einer jüdischen Familie, die seit Generationen vom Vieh- und Fleischhandel lebte. Natürlich sollte der 1903 geborene Ludwig die „En-gros-Schlachterei“ weiterführen. Doch nach der Lehre im Fleischerhandwerk schien ihm dies nicht mehr zu schmecken. Zwanzigjährig zieht er nach Berlin und bleibt dort ein knappes Jahr. Anschließend hält er sich in Quedlinburg, Oberhausen und Krefeld auf. 1930 kommt Ludwig Meyer nach Bielefeld zurück und fängt im väterlichen Betrieb an – bald ist er Mitinhaber der Schlachterei.

Der Vater, gesundheitlich angegriffen, habe „dringend seine Hilfe gebraucht“, heißt es in einem Schreiben aus der Entschädigungsakte nach dem Krieg. Auch der Betrieb war angeschlagen, machte immer weniger Umsatz – vor allem seit der Machtergreifung der Nazis. „Es kann unterstellt werden“, so eine spätere Bescheinigung der Bielefelder Fleischerinnung, „dass der Rückgang der Gewerbeerträge durch rassischen Boykott verursacht worden ist“. Und es bleibt nicht nur bei einem Boykott. Im Dezember 1937, mitten im Prozess der „Entjudung“ der Wirtschaft, wird den Inhabern die Ausübung der Schlachterei und das Betreten des Schlachthofs verboten. Das Ende des Familienbetriebs.

Zu diesem Zeitpunkt hat Ludwig Meyer bereits hinlänglich erfahren, was es heißt, verfolgt zu werden. Denn am 17. 10. 1936 wurde der bis dahin unbescholtene Kaufmann von der Gestapo festgenommen: Er ist eins der ersten Opfer der groß angelegten „Sonderaktion gegen Homosexuelle in Bielefeld“, in deren Verlauf 283 Männer in „Schutzhaft“ genommen und fast alle nach dem Paragraphen 175 angeklagt wurden. Das Urteil gegen Meyer, verhängt von der speziell eingerichteten Sonderstrafkammer II a: acht Monate Gefängnis.

Ob es dabei eine Rolle gespielt hat, dass er Jude ist und damit gleichsam doppelt stigmatisiert und zum Feind erklärt, ist zwar nicht nachzuweisen, aber zu vermuten. Immerhin hatte ein Jahr zuvor ein ähnlicher Prozess in Bielefeld stattgefunden, den der Stürmer, das Zentralorgan der SS, entsprechend ausgeschlachtet hatte. „Der Jude ist die verkörperte Unnatur“, hieß es da. „Und wenn der Angeklagte diese Verbrechen beging, dann weil das jüdische Blut ihn dazu trieb, der jüdische Hass gegen das deutsche Volk, nichtjüdische Jungen zu verderben.“ Auch nach Verbüßung der Haft bleibt Ludwig Meyer im Visier der Gestapo. Er wird erneut wegen „widernatürlicher Unzucht“ vor Gericht gestellt und erhält zweimal sechs Wochen Gefängnis.

Es liegt auf der Hand, dass die erzwungene Abwesenheit des Juniorchefs mit dazu beigetragen hat, dass der Schlachtbetrieb zunehmend schlechter läuft, ehe er Ende 1937 dann schließen muss. Damit wird Ludwig Meyer de facto arbeitslos; als Jude hat er ohnehin keine Chancen mehr. Am 2. 6. 1938 wird er dann in „Vorbeugehaft“ genommen und drei Monate später nach Buchenwald deportiert – zunächst in der Kategorie „Arbeitsscheu“, dann als Jude.

Knapp fünf Jahre bleibt Ludwig Meyer in Buchenwald – eine Zeit ohne irgendwelche Spuren. Die finden sich erst in Auschwitz, wohin er im Mai 1943 verlegt wurde, sowie später in Mauthausen. Dort musste er in dem vielfach als „Hölle“ beschriebenen Steinbruch arbeiten. Er zog sich eine schlimme Knieverletzung zu, die nicht heilte. Es grenzt an ein Wunder, dass er die letzten Monate in dem völlig überfüllten Lager überlebt hat.

Ein Überleben, dem später ein Mithäftling Respekt zollt: „Ludwig Meyer wurde genau wie ich im Lager als Jude geführt. Seine Einstellung war äußerst kameradschaftlich, er war von hingebender Hilfsbereitschaft den Kameraden gegenüber. Ich bin jederzeit bereit, für ihn einzustehen.“ Es ist dies eine eidesstattliche Erklärung des Fabrikanten Albert Bauer aus Gladenbach in Hessen, am 1. 8. 1949 den Bielefelder Behörden zugestellt, die Ludwig Meyer den Status als rassisch Verfolgter aberkennen wollten.

Am 8. Mai 1945 wurde Mauthausen befreit. Im August ist der mittlerweile 42-Jährige wieder zurück in seiner Heimatstadt. Dort gibt es aber kein Zuhause mehr. Im Christlichen Hospiz findet Meyer Unterkunft. Er wendet sich, da völlig mittellos, an die „Betreuungsstelle für politisch und rassisch Verfolgte“. Dort bekommt er etwas Geld und Lebensmittelkarten, kurz darauf auch einen einstweiligen Bewilligungsbescheid: 250 Reichsmark monatlich als „Beihilfe“. Im Mai 1946 dann die amtliche Anerkennung als rassisch Verfolgter mitsamt Aushändigung des so genannten Grünen Sonderausweises. Der von Ludwig Meyer, inzwischen Mitglied der Jüdischen Kultusgemeinde Bielefelds, trägt die Nummer 293.

Noch immer leidet er an den Spätfolgen der Beinverletzung und ist arbeitsunfähig. Erst Anfang 1949 bekommt er eine Stelle beim Wohnungsamt der Stadt. Doch zu der Zeit hat Meyer ein erneutes Strafverfahren und eine fünfwöchige Gefängnisstrafe hinter sich: wegen „Vornahme unzüchtiger Handlungen“. Eine Verurteilung nach dem unverändert gültigen Paragraphen 175. Zwar ist die Zeit der drakonischen Strafen vorbei, nicht aber die Verfolgung von Homosexuellen und auch nicht die gesellschaftliche Verfemung. Denn sogleich will die Bielefelder Wiedergutmachungsstelle „die Ankennung des Ludwig Meyer als rassisch Verfolgter“ widerrufen. Als sei das Recht, als jüdisches Opfer der nationalsozialistischen Verfolgung Entschädigungsleistungen zu erhalten, verwirkt aufgrund seiner Homosexualität und seiner früheren Verurteilung. Vergeblich interveniert die Jüdische Kultusgemeinde: „Wenn er [Meyer] nicht bereits im KZ gewesen wäre, er wäre bestimmt mit einem der ersten Transporte nach dem Osten verschleppt worden.“ Natürlich erhebt Meyer sofort Einspruch und bekommt ein Jahr später von der Bezirksberufungskammer Recht. Dennoch will man im Bielefelder Rathaus nicht klein beigeben und erhebt Einspruch, jetzt bei der Landesberufungskammer. Ein weiteres Jahr später verliert man erneut. In dieser Situation dürfte es für die Wiedergutmachungsstelle wie ein Geschenk des Himmels gewesen sein, als kurz darauf gegen Meyer als Angestellten des städtischen Wohnungsamts ein Ermittlungsverfahren wegen Betrug und Bestechlichkeit im Amt eingeleitet wird. Schon vor dem Gerichtsverfahren wird „die Betreuung des Meyer bis auf weiteres ausgesetzt“ und der Grüne Sonderausweis eingezogen. Kaum dass Meyer zu einer dreizehnmonatigen Gefängnisstrafe verurteilt worden ist, verliert er endgültig den Status als rassisch Verfolgter mitsamt allen Ansprüchen auf Entschädigung. Dass er im KZ gewesen ist, könne ja „nicht zu einem Freibrief für Straftaten führen“, heißt es seitens der Behörden.

Es brauchte noch einige Jahre, ehe dem homosexuellen Juden, der Buchenwald, Auschwitz und Mauthausen überlebt hat, doch noch Gerechtigkeit widerfuhr. 1956/57 kamen alle Entschädigungs- und Rentenangelegenheiten zu einem positiven Ausgang. Aber längst lebte Ludwig Meyer nicht mehr in Bielefeld. Man kann seinen Groll verstehen.

In Hannover fand er ein neues Zuhause – auch im Wielandseck, das er mit seinem Freund Günter Heidemann im Oktober 1953 gegründet hatte. Zeitzeugen beschreiben ihn als „einen gutmütigen und väterlichen Menschen“. Anfang der Sechzigerjahre gab Meyer, mittlerweile 57, das Wielandseck ab und zog irgendwann später nach Hamburg. Dort fand dieses deutsche Leben eines Homosexuellen und Juden eine gewaltsames Ende.

NIKO EVERS, ist Redakteur beim Bielefelder Stadtblatt