Messianische Kraft

Die Klänge wandern: Das Ensemble Modern Orchestra spielte Nonos Spätwerk „Prometeo“ in der Philharmonie

Luigi Nonos Spätwerk wird von einem finsteren Schattenklang beherrscht. Die Tonhöhen sind mikrotonal eingefärbt, der Puls verklärt; die diffuse Instrumentation weitet den akustischen Raum ins Bodenlose. Diese Klänge sind in einem ganz konkreten Sinne diastematisch, metrisch und räumlich nicht zu fassen.

Die Rezeption ist gespalten. Einerseits gestattet der Gestus des spröden Stummen, den Nono in den 80ern pflegte, einen eher spirituellen, meditativen Zugang. Nimmt man Nono hingegen als politisch engagierten Komponisten ernst, als den er sich seit den 50ern mit Werken wie „Il canto sospeso“ und „Intolleranza 1960“ eindeutig verstand, dann müssen diese Klänge als Ausdruck des Unbehagens verstanden werden.

Seinen „Prometeo“ (1981-85) hat Nono mit den Worten „Tragedia dell'ascolto“ untertitelt. Das kann heißen: eine Hörtragödie. Die Musik wäre dann ein Medium. Sie erzählt die tragische Geschichte von Prometheus' Verrat an der Menschheit und von dessen unheilvollem Pakt mit Zeus. „Tragedia dell'ascolto“ kann aber auch bedeuten: die Tragödie des Hörens. Diese Übersetzung hieße, die beschworenen finsteren Schattenklänge als Chiffre des eigenen Scheiterns zu begreifen.

Die Musik beschreibt ihr Unvermögen, in die Sphäre des politischen Bewusstseins einzugreifen. Nonos „Prometeo“ ist ein riesenhaftes Werk, daran ließ die Aufführung durch das Ensemble Modern Orchestra am Donnerstag in der Philharmonie keinen Zweifel. Zweieinhalb Stunden, ohne Pause, schlägt Nono den Hörer in seinen Bann.

Orchester und Chor sind auf den gesamten Saal verteilt, die Musik strömt von überall her. Der Librettist, Massimo Cacciari, kostet den Mythos von Prometheus in all seinen Lesarten aus. Die literarischen Vorlagen reichen von Hesiod bis Walter Benjamin. Und auch Nono belastet die Partitur mit Historie, mit der Renaissance eines Guillaume de Machaut und der Moderne Arnold Schönbergs. Das Schwergewicht des Werks aber schlägt sich nicht in der Musik selbst nieder.

„Prometeo“ leidet keineswegs unter Monumentalität. Zwar türmt Nono immer wieder schroffe Klangklippen aufeinander, und es sind diese bedrohlichen Crescendi, in denen die Musik ihre stärkste Wirkung entfaltet. Aber insgesamt dominiert ein verhaltener Gestus. Die hochkonzentrierten Musiker des Ensemble Modern Orchestra lassen die Klänge wandern. Die glänzend disponierten Gesangsolisten binden ihre stehenden Vokale feinfühlig in den Schmelzklang ein. Und im suchenden Treiben erkennt man Nonos Bemühen, die „kleine messianische Kraft“ (Benjamin), die der Komponist der Musik zubilligt, zu entfalten und das Publikum zu einem anderen Hören zu bewegen. BJÖRN GOTTSTEIN