Die Maschine wartet schon

Wer reist, erforscht Länder, lässt seine Sinne spazieren gehen und lernt Menschen kennen.Für chronisch Kranke bedeutet Reisen oft nur Behandlungsalltag in einem anderen Krankenzimmer

von TOBIAS KAISER

Franz Duschaneks bester Freund pumpt und summt. Seit zwei Stunden steht er neben Duschanek und arbeitet ohne Unterbrechung. Duschanek liegt daneben und wird mit jeder Minute, die der andere arbeitet, müder und erschöpfter. Ab und zu piepst der Pumper laut und schrill, dann kommt Wolfgang und schaut nach, was los ist.

Wolfgang ist Krankenpfleger und kümmert sich um Duschanek und die sechs anderen auf den Liegen in dem Raum. Neben jedem der Betten steht eine Maschine, die unablässig arbeitet. In Duschaneks rechtem Unterarm stecken zwei Kanülen mit Plastikschläuchen. Durch diese Schläuche läuft Blut aus der Unterarmvene in die Maschine. Die pumpt das Blut durch Schläuche und Plastikzylinder, reinigt es und drückt es durch eine andere Kanüle zurück in die Adern des Patienten. Innerhalb von vier Stunden läuft Duschaneks Blut fünfmal durch die Maschine. Hämodialyse heißt die Prozedur in der Medizinersprache, Laien nennen sie Blutwäsche. Duschaneks Leben hängt von der Maschine ab. „Sie ist dein bester Freund“, hat sein Arzt gesagt.

Duschanek liegt in einer Dialysepraxis im Allgäustädtchen Immenstadt. Vier der sieben Anwesenden sind Urlauber, die Feriendialyse machen – Duschanek auch. Im Raum ist nur das Summen der Geräte zu hören, keiner der Patienten spricht, nur ab und zu ruft einer nach Wolfgang.

Das Schweigen ist Duschanek unheimlich. Auch zu Hause in Köln reden die Dialysepatienten nicht miteinander, obwohl sie vier oder fünf Stunden lang nebeneinander liegen. Duschanek weiß erst seit einem Jahr, dass er dialysiert werden muss. Er war wegen starker Rückenschmerzen beim Arzt gewesen; als er heimkam, klingelte das Telefon. Der Sohn des Hausarztes war dran: „Pack deine Sachen, du bist am Sterben.“ Siebzehn Tage lag Duschanek auf der Intensivstation, mehr tot als lebendig, und als dann feststand, dass seine Nieren nicht mehr funktionieren würden, brach für den Frührentner eine Welt zusammen.

Seitdem beschützt die Maschine sein Leben. Dreimal die Woche wird er für fünf Stunden an die künstliche Niere aus Stahl und Plastik angeschlossen, die aus seinem Blut Gifte und Wasser zieht – Woche für Woche, Monat für Monat, für den Rest seines Lebens. Ohne die Blutwäsche würde der Körper mit Giftstoffen überschwemmt, Duschanek fiele in ein Koma und würde innerhalb weniger Tage sterben. „Ma derf nitt denken“, sagt er leise, und seine Augen werden feucht.

Es ist halb vier, seit mehr als zwei Stunden liegt Duschanek in der Feriendialyse. Dreimal in der Woche kommt er von 13 bis 18 Uhr in den Raum mit den weißen Raufasertapeten und dicken Holzbalken und langweilt sich durch den Tag. Die meisten Patienten schauen Fernsehen, immer zwei teilen sich einen Bildschirm, und jeder hat ein eigenes Paar Kopfhörer. Auf der Nebenliege wirft sich ein anderer Ferienpatient hin und her, zerknüllt sein Kissen, drückt seine Decke zu einem Haufen zusammen, rollt sich auf die linke Seite, dann auf die rechte, setzt sich auf, starrt sekundenlang auf den Fernsehschirm und legt sich wieder hin. Auf der anderen Seite sitzt ein Urlauber im Segleroutfit, bedenkt alle Anwesenden mit abfälligen Blicken und lauscht der Musik aus seinem tragbaren CD-Spieler. „Chronisch Kranke sind schwierig“, sagt der behandelnde Arzt – die ständige Konfrontation mit der Krankheit hinterlässt Spuren.

Duschanek und seine Frau wohnen in einer Pension in Hindelang, rund 20 Kilometer von Immenstadt. Die beiden waren schon viermal im Allgäu, aber dieses Mal ist alles anders als früher. Damals waren Herr und Frau Duschanek stundenlang in den Bergen unterwegs; stramme Fußmärsche, anschließend eine mitgebrachte Brotzeit auf dem Gipfel, so sah ein idealer Urlaubstag für das Ehepaar aus. Heute muss sich Franz Duschanek nach drei Kilometern hinsetzen und ausruhen.

Dreimal die Woche muss er an die Maschine, auch im Urlaub, sein Körper lässt ihm keine Wahl. So wie ihm geht es allen Dialysepatienten. Viele von ihnen suchen ihren Urlaubsort nach dem Dialyseangebot vor Ort aus. Orientierungshilfen bekommen sie genug; um die rund 50.000 deutschen Dialysepatienten hat sich eine kleine Reisebranche entwickelt. Im vierteljährlich erscheinenden Diatra-Journal werben Pensionen, Reisebüros und Feriendialysen um Kunden. An der Ostsee, in der Heide oder am Mittelmeer („Mallorca: Urlaub und Dialyse!“), überall stehen Liegen bereit. Für die ganz Mutigen sogar auf dem Wasser: Die MS „Arkona“ hat Dialyse-Kreuzfahrten bis nach Indien im Angebot. Auch das Gästeamt in Immenstadt weist in Broschüren und Katalogen auf die Dialysepraxis hin.

Nebenan im Raum liegen die älteren Patienten, auch dort laufen Fernseher, auch dort spricht keiner. „Der Euro wird weich“, krächzt ein Patient in die Stille, während im Fernsehen eine Euromünze computeranimiert zerfließt. Keine Antwort. Eine Patientin greift zur Fliegenklatsche, die Biester haben es auf ihr Blut abgesehen und fliegen immer wieder auf ihren Unterarm, dorthin, wo die Kanülen stecken. Schwester Elke lehnt mit gesenktem Kopf am Empfangstresen und stöhnt leise. Zwei der 16 Dialysemaschinen sind ausgefallen, die Nerven des Pflegepersonals liegen blank. Die Schwestern und Pfleger sind seit halb sieben im Einsatz, jetzt ist es kurz vor fünf.

Duschanek will im nächsten Jahr auf jeden Fall auf Fuerteventura Urlaub machen. Sein Sohn war gerade auf der Insel, hat dort ein Dialysezentrum mit angeschlossenem Hotel inspiziert und dem Vater Fotos mitgebracht. Franz Duschanek schwärmt von der Dialysestation, die ihn dort erwartet. Die Klinik steht direkt am Strand, die Patienten liegen während der Dialyse in Einzelkabinen, die zum Meer hin geöffnet werden können. Dort wird er liegen, die Wärme spüren, die Salzluft riechen und das Meer rauschen hören, während sein bester Freund neben ihm summt und pumpt.