Geschichte eines Schattenkindes

■ Erwachsene Adoptivkinder suchen nach ihren Wurzeln / Selbsthilfegruppe „Schattenkind“ bietet Hilfe und Unterstützung

Die Taufurkunde fehlte. Als Klaudia Pieper (Name von der Redaktion geändert), zwölf Jahre alt war und konfirmiert werden sollte, entdeckte sie, dass sie ein Pflegekind sein muss. Von da an war sich Klaudia Pieper sicher, dass ihre Mama nicht ihre leibliche Mutter ist. Sie konnte es einfach nicht glauben, dass in ihrem aufgeräumten Zuhause irgendetwas verlorengegangen sein könnte.

Die mittlerweile 50-Jährige war sechs Monate nach ihrer Geburt in ein Heim gekommen, mit zwei Jahren in eine Pflegefamilie. Warum, das hat sie nie erfahren. Obwohl damals alle aus der Adoption ein großes Geheimnis gemacht hätten, sei sie immer wieder auf Hinweise gestoßen: Es gab keine Babyfotos von ihr, keine Geschichten von den ers-ten Schritten, nichts.

Dass Kinder schon früh bemerken, wenn irgendetwas nicht stimmt, komme häufig vor, bestätigt Renate Tibus von der „Selbsthilfegruppe erwachsener Adoptierter und Pflegekinder – Schattenkind“. Was aber nicht bedeute, dass es den Kindern in ihren Familien nicht gut gegangen sei. Auch Renate Tibus war ein Pflegekind. Die Selbsthilfegruppe, die Adoptierten vor allem auf der Suche nach ihrer leiblichen Mutter unterstützt, trifft sich einmal monatlich und betreut derzeit etwa 50 Menschen.

Als Klaudia Pieper sich selbst auf die Suche nach ihren Wurzeln begab, hatte sie keinerlei Unterstützung. Bei der Adoptivvermittlungsstelle stieß sie auf ein seltsames Genehmigungsverfahren. Zur Akteneinsicht benötige sie „die Genehmigung der Leute, die sie suchen“, habe ihr eine Beamtin mitgeteilt – Datenschutz.

„Wenn einige Beamte nicht etwas mehr als ihre Pflicht tun würden, würde manche bis heute nichts über ihre Eltern wissen“, betont Tibus. Im Fall Pieper half ein anonymer Anrufer, die Familie zusammenzuführen. Die Stimme am Telefon verriet der Frau die Arbeitsstelle ihres Bruders. Ein Anruf in der Personalabteilung der entsprechenden Firma brachte sie zunächst zwar nicht weiter, dann meldete sich aber der Geschäftsführer und teilte Klaudia Pieper die Adresse ihres Bruders mit. Der jedoch war fortgezogen.

Wieder begann sie zu suchen, wälzte Telefonbücher, stand Schlange in Meldeämtern. Schließlich fand sie den Bruder in Bremerhaven. Der wusste, dass er adoptiert worden war, hatte aber nie den Mut nachzuforschen. „Aus Angst davor, nicht steuern zu können, was auf ihn zukommt“, so Pieper.

Nachdem der Bruder gefunden war, widmete sie sich wieder der Suche nach ihrer Mutter. Die Spur führte nach Amerika. Nach kurzer Zeit fand sich dort eine Frau, die genau den richtigen Namen trug – trotzdem Fehlanzeige. Weitere Recherchen folgten, bis Klaudia Pieper endlich ihre Mutter im Süden der USA aufspürte. Auf die ersten Briefe erhielt sie keine Antwort. Dann endlich ein Telefongespräch. Nach beinahe 50 Jahren.

Doch zu einer Begegnung kam es nicht mehr. Wenige Wochen vor dem ersten Wiedersehen verstarb die alte Dame. Was der Tochter blieb, war der Kontakt zum Lebensgefährten der Mutter, der ihr ein Tuch mit dem Parfum der lang Gesuchten schenkte. Und ein Foto. Als sie das Bild gesehen habe, sei das wie ein Vollrausch gewesen, erinnert sich Klaudia Pieper: „Das waren alle Festtage auf einmal. Ich suchte in dem Bild sofort nach mir selbst.“

Mit ihrem Bruder ist Klaudia Pieper heute oft zusammen. Die verlorene Zeit könne ihnen keiner wiedergeben. „Aber ich kann nun Sätze sagen wie: Ich war mit meiner Schwägerin unterwegs. Oder: Ich habe mit meinem Bruder telefoniert. Ich kann es sagen, weil ich sie jetzt endlich habe.“ chs