Unfehlbarer Antisemit

Papst Pius IX. wandelte sich vom Reformer zum Reaktionär – und wurde dafür jetzt selig gesprochen

Enthusiasmus machte sich unter den Gläubigen breit, als er den Thron Petri bestieg. Endlich ein Papst, der Reformen versprach. Nein, die Begeisterung galt nicht Johannes XXIII., dem gestern selig gesprochenen Papst des II. Vatikanischen Konzils. Es war Pius IX., dem der Ruf eines mutigen Erneuerers vorauseilte, als er 1846 die Herrschaft über die Katholiken und den damals noch recht ansehnlichen Kirchenstaat übernahm. Und der neue Papst wurde seinem Image zunächst gerecht, spendierte dem bis dato düsteren Rom nicht nur eine Gasbeleuchtung, sondern auch Mitspracherechte für die Bürger im Kirchenstaat und die Milderung der Zensur.

Doch nicht für diese Reformtaten wurde Pius gestern im Tandem mit Johannes XXIII. selig gesprochen. Eher schon wurde da vatikanische Ausgewogenheit praktiziert, wurde sehr absichtsvoll dem „Papa buono“, dem „guten Papst“ Johannes, ein stockreaktionärer Vertreter des katholischen Integralismus als frommes Vorbild an die Seite gestellt.

Denn der Modernisierungseifer des Papstes Pius erlahmte schon 1848 in den Wirren der Revolution. Nie vergaß er, dass er vor den Revoluzzern aus der Stadt fliehen musste. Fortan galt kämpfte er gegen die verderbliche Moderne. Auf diesem Feld erwarb er sich Meriten, die Johannes Paul II. mächtig gefallen: 1854 verkündete er das Dogma von der unbefleckten Empfängnis Mariä; 1864 veröffentlichte er das „Syllabus“, ein hitziges Pamphlet gegen Liberalismus und Aufklärung; 1870 ließ er sich vom I. Vatikanischen Konzil das Dogma der päpstlichen Unfehlbarkeit absegnen.

Und als weltlicher Herrscher im Kirchenstaat zeigte Pius IX., dass er ein Mann nicht nur der Doktrin, sondern auch der Tat war. Der eifernde Antisemit beschimpfte die Juden als „Hunde, die wir in allen Straßen jaulen hören“, und sperrte sie wieder ins gerade erst aufgelöste Ghetto. Der fanatische Antirevolutionär machte kurzen Prozess mit den Anhängern der italienischen Einigungsbewegung, deren er habhaft wurde. Da gönnte er sich auch ein bisschen Modernität: Den Galgen ersetzte er durch die Guillotine, und 1868 ließ er die Hinrichtung zweier Revolutionäre für sein Album fotografieren.

Vorbei waren die schönen Zeiten 1870, als die Truppen des Königreichs Italien in Rom einmarschierten. Nun regierte der Antichrist – in Gestalt des Königs Viktor Emanuel – im Quirinalspalast (aus dem Pius allerdings flugs alle Kunstschätze hatte ausräumen lassen). Pius gab daher ein letztes Zeichen heiliger Unbeugsamkeit: Bis zu seinem Tod 1878 sperrte er sich selber ein – als „Gefangener im Vatikan“.

MICHAEL BRAUN