Volkspartei ohne Volk

Jahrelang hat sich die Ost-SPD über die Ignoranz des Kanzlers beklagt. Nun war er da. Aber Schröders Sommer-Sonnen-Tour hat den Ost-Genossen kaum geholfen

Die SPD hat in ganz Sachsen nur so viele Mitglieder wie jeder durchschnittliche Kreisverband in NRW

„SPD deutlich über fünf Prozent“, titelte die taz schon 1995 nach der Wahl zum Berliner Abgeordnetenhaus. Fünf Jahre später war das Ergebnis sogar noch ein wenig schlechter – nur ein trauriger Höhepunkt auf einem langen sozialdemokratischen Leidensweg. Minus 15 Prozent in Brandenburg, ein klägliches Scheitern der lautstark proklamierten Machtübernahme in Thüringen, mit 10 Prozent in Sachsen das schlechteste SPD-Ergebnis in der Geschichte der Bundesrepublik überhaupt – die Lage der ostdeutschen Sozialdemokratie als schlecht zu bezeichnen, ist glatte Untertreibung.

Seit dem Amtsantritt der rot-grünen Koalition haben die Wahldebakel einen neuen Namen: Schröder. Unisono hieß es bei den örtlichen Genossen, man sei ein Opfer der Regierungspoltik – und vor allem des Sparkonzepts des Kanzlers. Brandenburgs Regierungschef Manfred Stolpe bezeichnete die ostdeutschen Genossen sogar als Opfer ihrer Solidarität mit der Bundesregierung.

Seit diesem Wochenende ist nun der Schuldige des Desasters von seiner ostdeutschen Sommer-Sonnen-Tour zurück. Kann die SPD in Ostdeutschland von Schröders Trip profitieren? Verbessert sich jetzt ihre Lage? Auf diese Frage gibt es viereinhalb Antworten.

Die erste: Innerhalb kurzer Zeit hat sich in Ostdeutschland ein politisches Milieu herausgebildet, das geographisch vergleichbar ist mit dem westdeutschen. Der Norden wählt überwiegend rot, Deutschlands Mitte wechselhaft, der Süden schwarz – Experten erklären diese Geographie mit Mentalitäten. Während in Thüringen und Sachsen die Menschen bevorzugt sagen: „Das haben wir geschafft!“, deklinieren Berliner, Brandenburger oder Mecklenburger lieber, was alles noch zu tun sei. Einstellungen, die für das jeweils vorherrschende gesellschaftspolitische Klima stehen – hier konservativ, dort eher linksliberal.

Und wie die Wähler, so die Sozialdemokraten selbst: In Sachsen ist die SPD konservativer als beispielsweise an der pommerschen Küste. Auch Sachsens PDS gilt als die gemäßigste überhaupt. Und der durchaus doppeldeutig gemeinte Slogan „Sachsen wählen!“ reichte der CDU, um ihre absolute Mehrheit souverän zu verteidigen. Entsprechend schwer hat es die SPD-Fraktion, inzwischen auf 14 Abgeordnete geschrumpft, überhaupt Profil zu bilden. Jede Konfrontation mit dem Regierungskurs muss zwangsläufig zu einer Konfrontation mit der Mentalität des Wahlvolks führen – in Sachsen ebenso wie in Thüringen. Schon jetzt ist zu prognostizieren: Auch nach Biedenkopf und Vogel wird die sozialdemokratische Politik im Osten Oppositionspolitik sein.

Zudem ist die SPD im Osten – die zweite Antwort – eingekeilt zwischen CDU und PDS. Seit 1990 währt die sozialdemokratische Dauerdebatte zwischen Moralisten und Pragmatikern, zwischen Traditionalisten und Liberalen, wie mit der PDS, der bedrängenden linken Konkurrenz, umzugehen sei. Keine andere Partei hat sich so intensiv, zeit- und kraftraubend mit sich selbst befasst wie die SPD. Geholfen hat es wenig. Was die Sozialdemokratie auch tat, es war das falsche. In Thüringen hat sie einen Kurs der Annäherung an die PDS verfolgt – und ist zur Landtagswahl eingebrochen. In Sachsen grenzten sich die Genossen scharf ab – und wurden trotzdem vom Wähler gedemütigt. Die Postkommunisten wurden, jeweils mit deutlichem Stimmengewinn, in beiden Ländern die Oppositionsführer.

Wen wundert es da, dass der sozialdemokratische Kurs in Sachsen-Anhalt heftig umstritten ist. Setzten sich die anhaltiner Sozis vor Jahren noch mit der PDS auseinander, so streiten sie sich heute um die PDS. Im kommenden Jahr wird der Spitzenkandidat zur Landtagswahlen 2002 benannt und damit die Frage entschieden: ob mit oder gegen die PDS regiert wird. Klar ist jedoch schon heute, dass es eine Neuauflage des Magdeburger Tolerierungsmodells nicht geben wird. Die Alternativen sind allerdings nicht verlockend: eine große Koalition mit der chronisch im Tief steckenden CDU oder eine rot-rote Koalition, die die PDS nur noch weiter aufwerten würde. Auch wenn die im „Mansfelder Forum“ vereinigte Linke die erstaunlich gut funktionierende rot-rote Regierung in Mecklenburg immer wieder gern als mögliches Vorbild zitiert: zu verschieden sind die landesspezifischen Probleme, zu verschieden die handelnden Akteure.

Ostdeutschlands SPD ist – die dritte Antwort – nicht nur zwischen CDU und PDS eingekeilt, sondern auch zwischen Tradition und neuer Mitte. Es war das Schröder-Blair-Papier, das kalt und lieblos das denunzierte, wofür die Genossen östlich der Elbe wahrgenommen wurden: als warmer, sozialsolidarischer Hort jenseits der PDS. Im Westen Deutschlands mag das Papier als zukunftsorientiert erscheinen. Im Osten verursachte es eine Identitätskrise. So wird Magdeburgs Regierungschef Reinhard Höppner nicht müde zu predigen, dass es im deutschen Osten keine neue Mitte gibt.

Im Westen mag das Schröder-Blair-Papier modern sein. Im Osten verursachte es eine Identitätskrise

Allerdings wird diese Meinung von Brandenburgs Regierungschef Manfred Stolpe anscheinend nicht geteilt. Er versucht die Krise seines Landesverbands zu überwinden, indem er die Brandenburger SPD im Sinne Schröders umbaut. Die programmatische Rosskur des stärksten Ostverbands hat jedoch auch Opfer gekostet. Denn Regine Hildebrand passt genauso wenig ins Bild einer Schröder-SPD wie der intellektuelle, aber nicht sehr mediengewandte Landesvorsitzende Steffen Reiche. Beide mussten abdanken. Matthias Platzeck – gerade zum neuen Landesvorsitzenden gekürt – ist hingegen ganz nach Schröders Geschmack der neuen Mitte: mediengewandt, pragmatisch, machtbewusst. Mit ihm leitete die Brandenburger SPD eine im Osten beispiellose Modernisierung ein. Die Frage ist, ob das vom Wahlvolk honoriert wird.

Antwort vier zur Lage der SPD im Osten: Die Basis ist nach wie vor ausgesprochen dünn. Immerhin gelang es den Sachsen, ihren Mitgliederschwund zu stoppen. Die SPD hat jetzt im Freistaat sogar wieder genau so viele Mitglieder wie vor sechs Jahren: 5.300 – also in etwa so viele, wie jeder durchschnittliche Kreisverband in Nordrhein-Westfahlen aufweisen kann. Selbst der als stark geltende märkische Verband kann sich nur auf 7.600 Mitglieder stützen. Die PDS hat im Vergleich nicht nur dreimal mehr Mitglieder, sondern auch vielfach die fähigeren, die intellektuelleren. Natürlich macht sich die dünne Mitgliederstruktur in der Kampagnenfähigkeit genauso bemerkbar wie in den leeren Kassen.

Und hier folgt nun die noch ausstehende halbe Antwort. Schröder gelang es auf seiner ostdeutschen Sommer-Sonnen-Tour immerhin, etwas von seinem derzeit berechtigten Selbstbewusstsein an die Basis weiterzugeben. Auch dürften das Verständnis für den notwendigen Solidarpakt II an Deutschlands Staatsspitze gewachsen sein. Am Unverständnis der westdeutschen politischen Eliten dem Osten gegenüber aber wird des Kanzlers Ost-Kurztrip nichts ändern. NICK REIMER