Europas stille Tage in Evian

EU-Außenministergipfel: Die EU-Außenpolitiker Patten und Solana streiten um Kompetenzen, und wesentliche Fragen werden erst gar nicht angepackt. Die Chancen für einen Durchbruch bis zum Nizza-Gipfel am Jahresende stehen schlecht

Außenkommissar Chris Patten fühlt sich wie Günter Verheugen von den Regierungschefs mit unlösbaren Aufgaben allein gelassen

aus Brüssel DANIELA WEINGÄRTNER

Der Gastgeber, Frankreichs Außenminister Hubert Védrine, hatte zum Gedankenaustausch in entspannter Atmosphäre gebeten, „zwanglose Kleidung“ erwünscht. Zwei Tage lang sprachen die EU-Außenminister im Kurort Evian am Ufer des Genfer Sees informell und ohne feste Tagesordnung über Aufgaben für das nächste Halbjahr.

Entspannung allerdings ist bei den anstehenden Themen kaum zu erwarten: Die Wahlen in Serbien in Verbindung mit der EU-Sanktionspolitik gegen Slobodan Milošević oder Jassir Arafats Ankündigung, noch im September einen Palästinenserstaat auszurufen, verlangen der EU eindeutige Stellungnahmen ab.

Nächste Woche will zudem das von der EU eingesetzte Gremium der „drei Weisen“ seinen Österreich-Bericht vorlegen. Dann müssen sich 14 Außenminister darüber einigen, wie sie in Zukunft mit dem schwarzen Schaf Österreich umgehen wollen.

In allen anstehenden Punkten blieben die Stellungnahmen, die aus Evian an die Öffentlichkeit drangen, merkwürdig vage. Israel und Palästina sollten die historisch einmalige Chance zum Frieden nutzen, sagte die Sprecherin des französischen Außenministers, Anne Gazeau-Secret. Der niederländische Außenminister Jozias Van Aartsen wurde mit der Einschätzung zitiert, dass die EU einen einseitig von Jassir Arafat ausgerufenen Palästinenserstaat derzeit wohl nicht anerkennen werde. Für Verwirrung und Aufregung sorgte Erweiterungskommissar Verheugens Interview in der Süddeutschen Zeitung vom Wochenende. Darin hatte der deutsche Exstaatssekretär im Außenministerium gefordert, in Deutschland per Volksabstimmung über die Osterweiterung entscheiden zu lassen. Er warf außerdem den Nationalstaaten vor, die EU-Kommission mit der „Drecksarbeit“ der Erweiterung allein zu lassen. Ein in die Erweiterungsgespräche einbezogener Beamter erklärte dazu in Evian, die Erweiterungsgespräche kämen nur schleppend voran. „Polen ist einfach noch nicht reif für die EU-Aufnahme“, sagte der EU-Diplomat. Bundesaußenminister Joschka Fischer reagierte scharf auf die Kritik seines Landsmannes. „Die Erweiterung ist keine Drecksarbeit“, sagte er auf Journalistenfragen.

Für Zündstoff sorgte auch die von EU-Außenkommissar Chris Patten in Evian noch einmal vorgetragene Kritik an der Organisation und Wirkungskraft europäischer Außen- und Entwicklungspolitik. Patten fühlt sich wie Verheugen von den Regierungschefs mit unlösbaren Aufgaben allein gelassen. Mittel würden unkoordiniert verteilt, zugesagte Gelder oft aus Personalmangel überhaupt nicht ausgezahlt. Die europäischen Staatschefs und Außenminister verabredeten ständig neue Projekte, ohne die Frage zu klären, wie sie von der Kommission ohne zusätzliches Personal durchgeführt werden sollten. Auch sei die Kompetenzverteilung zwischen der Kommission und dem vor einem Jahr neu eingesetzten Hohen Vertreter für Sicherheits- und Außenpolitik, Xavier Solana, völlig ungeklärt. In einem internen Papier hatte Patten schon im Mai die Kommission verglichen mit „einer Magd, die in einer winzigen Küche mit armseligen Zutaten immer größere und aufwendigere Abendessen zubereiten muss“.

In Evian konterte Solana mit einem eigenen Papier, verzichtete aber dabei in der für ihn typischen diplomatischen Art auf jeden direkten Angriff auf Patten. Er appellierte vielmehr an die Mitgliedstaaten, ihre außenpolitischen Anstrengungen besser zu koordinieren. In Russland zum Beispiel verfüge die EU über 15 getrennte nationale Vertretungen und zusätzlich eine EU-Vertretung. Weltweit seien 40.000 EU-Diplomaten im Einsatz, aber nur 15.000 US-Diplomaten. Das Ergebnis der diplomatischen Bemühungen stehe jedoch in keinem Verhältnis zu diesem Aufwand.

Die Außenminister machten sich in Evian Pattens und Solanas Kritik zu eigen. Von den zugesagten 250 Millionen Euro, die Mittelamerika vor zwei Jahren wegen des Wirbelsturms „Mitch“ versprochen worden sind, sei bislang „nicht ein Cent geflossen“, räumte der deutsche Außenminister vor Journalisten ein. Der britische Außenminister Robin Cook schlug vor, eine Klausel einzuführen, wonach Hilfsgelder verfallen, wenn sie nicht innerhalb eines bestimmten Zeitraums abgerufen werden. Diesem Vorschlag schlossen sich auch Deutschland und Österreich an. Die französische Präsidentschaft soll bis Oktober Vorschläge ausarbeiten, wie die entwicklungspolitische Arbeit der EU verbessert werden kann.

Diese Detailbeschlüsse können aber nicht darüber hinwegtäuschen, dass die Außenminister um die großen anstehenden Fragen des kommenden Halbjahrs in Evian einen Bogen gemacht haben. Der französische Gastgeber, Außenminister Hubert Védrine hatte sich zwar – ebenfalls per Zeitungsinterview – besorgt darüber geäußert, dass die Verhandlungen über die EU-Reform nicht vorankommen. In Evian aber hatte er nur eine allgemein gehaltene Debatte über Europas Zukunft auf die Tagesordnung gesetzt. Jede inhaltliche Erörterung der strittigen Reformpunkte hatte er ganz bewusst vermieden.

Alles deutet darauf hin, dass die Franzosen beim großen Gipfel in Nizza im Dezember eine Nacht der langen Messer anstreben, wo am Ende mehr aus Erschöpfung denn aus Einsicht die Kompromisse zustande kommen. Die Tragfähigkeit dieser Taktik allerdings hatte Védrine in dem Interview selbst infrage gestellt, indem er sagte: „Die Folgen einer billigen Vereinbarung wären für das europäische Haus fürchterlich.“

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