Die Wanne füllt sich wieder

Die Ostseeinsel Usedom galt zu Kaisers Zeiten als Berlins Badewanne. Heute setzen die Badeorte wieder auf mondäne Hauptstadtgäste. Doch alle anderen kommen auch. Eine Sommerbilanz

von KATJA GEULEN

Tradition wird ja jetzt wieder als positiver Begriff angesehen. Jahrelang wurde sie als kleinbürgerliche oder gar gefährliche Spießigkeit geschmäht. Aber nun darf man sie wohl wieder pflegen. Wird doch in Berlin überall gemacht. Die guten alten Zeiten scheinen grell an jeder Ecke durch. Und was tut der Berliner traditionellerweise im Sommer? Er fährt in die Sommerfrische. An der Ostsee. Die wurde schließlich schon zu Kaisers Zeiten Berlins Badewanne genannt. Und auch diesen Sommer war die Wanne wieder randvoll mit Berlinern.

Denn hier gibt es jede Menge Tradition. Zum Beispiel die Kaiserbäder auf Usedom. Welch Idylle! Massen von Leuten in lustig gestreiften Badeanzügen bauen Sandburgen um ihre Strandköbe. Und alles in Schwarzweiß. Nachdem Wilhelm II. gerne mal nach Swinemünde fuhr, folgten ihm bald seine Untertanen ans Meer. Die benachbarten Fischerdörfer Ahlbeck und Heringsdorf wurden mit schönster Architektur zu schicken Badorten aufgepäppelt.

Um die Jahrhundertwende kamen scharenweise Frauen mit dem „Witwenexpress“ in zweieinhalb Stunden aus Berlin an die Küste – am Wochenende gefolgt von den Männern im „Bullenzug“. Und auch Promis waren auf Usedom: die Brüder Mann, Gorki, Grete Weiser, Göring. Fontane natürlich auch, aber der war ja überall.

Doch wie so oft war die Mauer dann Schuld daran, dass die Situation sich gänzlich änderte: Die Westberliner, die Gefahr liefen, nach der weiten Reise an die westliche Ostsee auf zu viele Hamburger zu treffen, mussten nach Lüchow-Dannenberg oder gleich nach Kreta ausweichen. Die Ostberliner pflegten, neben Camping in Bulgarien, das Wannen-Erbe zwar durchaus weiter, wurden aber empfindlich durch die noch massenhafter auftretenden Sachsen in den FDGB-Ferienheimen beeinträchtigt.

Aber jetzt ist ja alles wieder gut. Laut Statistik des örtlichen Touristenbüros waren in diesem Sommer immerhin ein Drittel der eingetragenen Übernachtungen Berliner und Brandenburger. Das ist doch ein Anfang!

Ein wichtiger Punkt in der Tradition der Kaiserbäder ist jedoch ein ganz anderer: Schließlich hieß Heringsdorf in Blütezeiten auch „das Nizza der Ostsee“. Es ging um „sehen und gesehen werden“. Und so soll es wieder sein. Findet zumindest Amtsleiter Kottwittenborg: „Heringsdorf soll wieder ein mondänes Seebad werden.“

Dass damit auch gemeint ist, Leute mit etwas mehr Geld sollen doch bitte gerne hierher und nicht nach Timmendorfer Strand kommen, ist deutlich an den Bauzäunen vor jeder zweiten Villa zu lesen: „Hier entstehen 12 Luxus-Eigentumswohnungen“ oder „Hier entstehen in denkmalgeschützer Villa acht Eigentums- und Ferienwohnung mit gehobener Ausstattung“. Da muss man schon öfter mal nach dem Rechten sehen, bei einem Quadratmeterpreis von über fünftausend Mark. „15 von 20 Anfragen kommen aus Berlin“, schätzt Herr Kraut von Sanders-Immobilien, „und das sind nicht nur Zahnärzte. Auch der Handwerker, der sich was zusammengespart hat, oder das junge Paar, das geerbt hat, kaufen hier Wohnungen – und es gibt auch Anfragen „von den Regierungsleuten“.

Eine solche Mischung lassen auch die Autos mit den Berliner Kennzeichen vermuten, die zumindest teuer aussehen. Wer was auf sich hält, fährt nämlich die (inzwischen meist) viereinhalb Stunden lieber selbst und nicht im Zug. Das macht sich besser bei der Ankunft an der Strandpromenade. Nur die Hamburger haben Autos mitgebracht, die noch schicker sind.

Was jetzt klingt, als sei Heringsdorf schon zu einem weiteren angesagten Bezirk Berlins geworden, sieht allerdings in Wirklichkeit noch etwas anders aus. Klar, es erinnert manches an zu Hause. Die tolle neue Seebrücke zum Beispiel ähnelt mit ihrer windabweisenden Plexiglaszwischenwand, dem netten Spitzdach und den vielen allzu hellen Lichtern einer 500 Meter langen Straßenbahnhaltestelle. Das Hotel Maritim mit integriertem Rathaus und Kurverwaltung, hat seine zentral im Schlenderbereich gelegene Einfahrt wie eine große überdachte Tankstelle gestaltet. Und die hohe Anzahl alter Frauen, die sich hüstelnd tapfer vorwärts bewegen, erinnert an beste Zeiten auf der Fußgängerzone in der Wilmersdorfer Straße.

Auch ist es inzwischen durchaus möglich, einen Cappuccino ohne Sahnehaube zu trinken (aber auch ohne Kollwitzplatz-Ambiente). Doch die Speisekarte lässt einen eher wieder auf griechischen Inseln wähnen: Es gibt überall dieselben acht Gerichte zur Auswahl. Mussaka heißt hier Bauernfrühstück, Gyros nennt sich Würzfleisch, Grillplatte ist Hamburger Schnitzel (mit Ei) und Calamares sind Fischfilet. Na, und so weiter. Das sind eben andere Traditionen, die auch gepflegt werden mögen. Es ist ja schließlich Teil des Erholungswertes, dass man eben nicht in Berlin ist.

Jedenfalls ist noch nicht so richtig zu erkennen, wonach genau die Kaiserbäder eigentlich streben. Sicher, Prominente sollen wieder promenieren – dafür finden die Modetage statt, und sogar Friseur Udo Walz kommt. Kultur soll es auch geben – dafür finden die Musikwochen statt. „Es kommen auch wieder Künstler aus Berlin, die die Ostsee malen“, freut sich Karin Lehmann vom Touristenbüro. Aber auch alle anderen sind gern gesehene Gäste: diejenigen, die schon immer kommen, und die, die nur mal vorbeigucken wollen. Wohnungskäufer und Zimmermieter. Radler, Jugendliche, Rentner, Familien. Also alle. Nach den Flauten-Jahren nach der Wende sind die Bäder stolz, jetzt wieder an die Besucherzahlen in DDR-Zeiten heranzukommen. Nur Mallorca, das soll es auf keinen Fall werden. Und Hotels werden erst mal auch nicht mehr gebaut, man feilt an der Auslastung der vorhandenen Betten.

Doch anscheinend nehmen die Besucher, sowohl vom kaiserlichen als auch vom proletarischen Schlag, die ihnen adäquaten Angebote an. Ein gutes Imagekonzept: unklar, aber wirksam. Frau Dr. Lehmann, die stellvertretende Kurdirektorin, bringt einen weiteren wichtigen Kundenstamm ins Rennen: Die Kaiserbäder sind als Kurorte für Berliner Beamte beihilfefähig! Es gibt auch prima „Angebote im Wellness- und Beautybereich“. Über dem Eingang der Kurklinik ist ein Leucht-Display installiert, auf dem rote Buchstaben vorbeirauschen. Dort sind Krankheiten aufgelistet, von denen man hier geheilt werden kann.

An der Konzertmuschel auf der Kurpromenade zeigt sich das wahre Gesicht des Ortes Heringsdorf und seiner Sommergäste: Frisch ergraute Männer in Birkenstock wippen unrhythmisch, aber aufgeschlossen zu den Klängen der Jambalaya Spirits, einer Gospelband. Ihre Frauen in weißen Leinenhosen wippen etwas taktvoller und haben den verklärten Ausdruck von „manchmal fühl ich mich so richtig frei“ in den Augen. Drumherum rasen gelangweilte Gören mit Alurollern und Tretautos, worüber sich die Gatten der Omas aufregen, die verstört auf Bänken sitzen und das Geschehen verfolgen oder ihre eigenen gelangweilten Enkel davon überzeugen, dass sie nicht auch noch so einen Roller brauchen. Junge Leute gibt es auch ein paar; sie stehen gut angezogen und schüchtern da und üben verhaltene Freude ob der Tatsache, dass heute keine Strauß-Walzer gespielt werden. Und nicht zu vergessen, weiter hinten die wenigen Ortsansässigen in Bluejeans, die diese Freude wohl tatsächlich teilen.

Sicherlich ist es möglich, von Möchtegern-Schickis und hustenden Renterhorden unbehelligt einen angenehmen Urlaub zu verbringen, wenn man mit der Bahn anreist und sich ein Quartier im wunderschönen Hinterland Usedoms sucht. Oder direkt aus dem Hotelzimmer an den breiten Sandstrand flieht, dort, wo nur noch vereinzelt idyllische Strandköbe stehen. Viel Platz für Sandburgen und lustig gestreifte Badeanzüge. Nur die Erinnerungsbilder für eventuell zukünftig zu findende Traditionen sind diesmal in Farbe.