Die Überraschung des Kommissars

Günter Verheugens Überlegungen zum Volksentscheid bei wichtigen europäischen Fragen werden von einem künstlichen Sturm der Entrüstung verweht

aus BrüsselDANIELA WEINGÄRTNER

Der Urheber der ganzen Aufregung, der für die Erweiterung der Union zuständige EU-Kommissar Günter Verheugen, war wohl am meisten überrascht. In einem Interview, in dem es im Wesentlichen um den Widerspruch zwischen den hohen Erwartungen der Öffentlichkeit an die Kommission und ihren tatsächlichen politischen Möglichkeiten ging, hatte er – nicht zum ersten Mal – bemerkt: „Über Verträge, die den Charakter des Staates verändern, etwa durch Abgabe von Souveränität, sollte es Volksentscheide geben.“ (siehe nebenstehenden Wortlaut)

Den EU-Außenministern, die am Wochenende eigentlich über die Zukunft Europas hätten beraten sollen, kam die Schlagzeile „Verheugen will Volksentscheid über Osterweiterung“ gerade recht. Empörung beim dänischen Außenminister, dessen Land regelmäßig das Volk über große EU-Entscheidungen abstimmen lässt, zum nächsten Mal am 28. September über den Beitritt zum Euro. Angewidertes Kopfschütteln beim deutschen Außenminister, dessen grüne Partei sich stets dafür eingesetzt hat, plebiszitäre Elemente in die deutsche Verfassung aufzunehmen. Fischers Kommentar: „Eine Volksabstimmung in Deutschland über Polens EU-Beitritt. Wenn Sie das zu Ende denken . . .“ Ganz Europa schien sich spätestens am Montag über alle Parteigrenzen hinweg einig zu sein, das keinesfalls zu Ende denken zu wollen. Der liberale österreichische Standard taufte Verheugen „Kommissar Brandstifter“. Und Kommissionschef Romano Prodi schnauzte seinen Kommissionskollegen via Fernsehen an, er solle ihn gefälligst anrufen. Es gebe Klärungsbedarf.

In Verheugens Umgebung kann man sich Prodis heftige Reaktion nur damit erklären, dass er den Wortlaut des Interviews gar nicht kannte. Dass Romano Prodi, der nun immerhin seit einem Jahr mit Verheugen eng im selben Team zusammenarbeitet, einer aufgepeppten Schlagzeile mehr traut als seinem Kommissionskollegen, ist bemerkenswert. Wer Günter Verheugen kennt, der weiß, dass seine öffentlichen Aussagen beklagenswert wenig Schlagzeilen hergeben. Der Mann denkt lange, formuliert vorsichtig und sagt dann sicherheitshalber dasselbe noch einmal.

Bemerkenswert ist auch, dass Kommissionschef Prodi und die Minister sich stillschweigend einig waren, das Thema „Osterweiterung und Volksentscheid“ weiter durch die Schlagzeilen zu jagen. Dabei hatte Verheugen – ähnlich wie im Mai Außenkommissar Chris Patten – in seinem Interview einen wirklich brisanten Punkt berührt und für seine Verhältnisse ungewöhnlich deutliche Worte gefunden: „Die Mitgliedsstaaten dürfen es nicht der Kommission überlassen, die Drecksarbeit alleine zu machen. Auch die Staaten müssen sich mit den Vorurteilen und berechtigten Ängsten der Menschen auseinander setzen.“

Genau dazu aber ringen sich weder die Außenminister noch die Regierungschefs auf ihren relgelmäßigen Treffen durch. Alle wissen, dass das Tandem Rat/Kommission einen Konstruktionsfehler hat, der spätestens nach der Erweiterung um neue Mitglieder zum Stillstand der Politik auf EU-Ebene führen wird. Vor der Sommerpause hat darüber ein deutsch-französischer Dialog immerhin begonnen. Im größeren Kreis aber wird das heikle Thema bis heute nicht angefasst. Denn das Tandem könnte nur flottgemacht werden, wenn die Nationalstaaten politische Macht an die EU abgeben.

„Ich habe keine Personalhoheit, keine Organisationshoheit und keine Finanzhoheit. Die drei entscheidenden Instrumente, um eine Verwaltung zu führen, die habe ich als EU-Kommissar nicht“, sagt Günter Verheugen in der Passage seines Interviews in der Süddeutschen Zeitung, die weder bei der Kommission noch bei den Ministern auf Interesse gestoßen ist. In der Umgebung des Kommissars wird bestritten, dass aus diesen Worten der Frust eines erfahrenen Politikers spricht, der vor einem Jahr voller Elan mit seinem „Traumjob“ begann und sich zunehmend als machtloser Erfüllungsgehilfe eines unberechenbaren Ministerrates erlebt.

Verheugen erlebt nun das Kesseltreiben, das einen Politiker erwartet, der sich über Worthülsen hinauswagt und eine überfällige Diskussion anstoßen will. In Zukunft wird er wohl wieder sorgfältig darauf achten, dass seine Äußerungen nicht für Schlagzeilen taugen.