Schulreformen rauben vollends die Zeit für Gefühle

Der organisatorische Wandel von Schule kann ohne die Subjekte nicht gelingen. Die emotionale Seite der Beteiligten wird aber oft vernachlässigt

Cornelia ist eine gute Schülerin am Gymnasium. Bis auf eine Ausnahme. In Mathematik bekommt sie eine Sechs. Fast werden ihr die neuen Versetzungsrichtlinien des Gymnasiums (für Nordrhein-Westfalen) zum Verhängnis. Die sollen für mehr Anstrengungsbereitschaft sorgen. Und das Gymnasium wieder zu einer Schule der Leistung machen. Cornelia hat Glück. Die Konferenz versetzt sie, weil die Eltern eine Schulberatungsstelle konsultieren, um den Ursachen von Cornelias Rechenschwäche auf die Spur zu kommen.

Was auf den ersten Blick wie das persönliche Problem einer Schülerin aussieht, ist tatsächlich auch Folge eines zu kurz greifenden Verständnisses von schulischem Lernen. Bei entsprechenden Bedingungen können sich Persönlichkeit und Lernhaltung weiterentwickeln, statt auf dem „mitgebrachten“ Niveau zu verharren.

Die Normalschule aber besitzt in der Regel kein ausgereiftes System des kollegialen Austausches, der kollegialen Reflexion und Kontrolle. Diese fehlende Kultur der Zusammenarbeit bedeutet Stress und Angst vor Fehlerentdeckung. Cornelia hat die Rechenschwäche auch deshalb, weil ihre Grundschullehrerin das Problem unterschätzte. Vielleicht fürchtet die Lehrerin, dass sie selbst es ist, die Schwächen im Unterrichten hat? Für den Mathelehrer des Gymnasiums wiederum ist Cornelia schlicht ein Fall fehlender Begabung.

Lernschwierigkeiten müssen nicht in jedem Fall Angelegenheit von Spezialisten wie SchulpsychologInnen sein. LehrerInnen könnten mit einer Haltung der Neugier für die Lern- und Lebenswege der Kinder und mit offenen Unterrichtsformen Entwicklungsräume für Lernen und Persönlichkeit öffnen. Wenn dafür Zeit wäre. Freiräume für Begegnung und Kennenlernen der Lernwege passen nicht zum Subtext der Schule. Traditionell ist Schule kein Ort, an dem Subjektives wie Gefühle oder das Nachdenken über den heimlichen Lehrplan einen Platz hätten.

Nicht nur in Nordrhein-Westfalen werden Reformen als organisatorische Neuausrichtung von Schule begriffen. Diese Aufforderungen an die Lehrerschaft, sich kollektiv zu verändern, berühren freilich umso mehr die persönliche Orientierung der Beteiligten – und wecken Ängste und Unsicherheiten. Sind aber die Voraussetzungen so, dass LehrerInnen bereit sind, bei Forderungen aus den Ministerien Risiken einzugehen? Etwas zu wagen braucht Vertrauen, Zeit und ein Unterstützungsangebot. Fehlt das, fällt es LehrerInnen schwerer, sich zu öffnen. Eine neue Schul- und Unterrichtsqualität kann sich dann schwerlich entwickeln.

Die in bildungspolitischen Leitlinien vieler Bundesländer verkündeten anspruchsvollen (und berechtigten) Ziele einer persönlichkeitsbildenden und qualifizierenden Schule lassen sich nur erreichen, wenn die Verantwortlichen akzeptieren: Es sind Menschen mit Gefühlen, die im widersprüchlichen Prozess der Reorganisation ihre Lehranstalt neu erschaffen sollen. Dafür benötigen sie mindestens phasenweise externe Unterstützung, etwa durch ExpertInnen für Supervision und Organisationsentwicklung. „Beratung und Hilfe sind für Schulen künftig genauso wichtig wie die klassische Schulaufsicht“, sagte Bundespräsident Rau zu Recht in seiner Berliner Bildungsrede. Von diesem Verständnis der Schulentwicklung sind Schulen und Ministerien weit entfernt.

Dann fühlen sich Lehrer nicht ernst genommen

In der Geschichte der bürokratisierten Schule hat sich viel „Müll“ aus Verordnungen und Richtlinien angesammelt. Es ist eine Erleichterung, wenn vereinfacht wird und die Akteure vor Ort mehr Entscheidungsspielräume bekommen, wie etwa bei den Bildungswegen für begabte SchülerInnen. Solche Entrümpelungen erwecken allerdings den Anschein, mit der normativen Neuausrichtung wäre die Arbeit an einer guten Schule bereits getan. Der Gehalt der Reform entscheidet sich aber daran, ob sich die Beteiligten dem Beschleunigungsdruck widersetzen können und sich Zeit nehmen. Zeit, um Ängste abzubauen und Vertrauen entwickeln zu können. Können die Schulministerien dafür einen Rahmen schaffen?

Die Praxis schulischer Modernisierung und Qualitätsentwicklung in Deutschland droht ihre Ziele zu verfehlen. Mit der neuen Bildungspolitik verbinden LehrerInnen nur selten die Erfahrung, als Partner ernst genommen zu sein. Sie spüren, dass sie funktionieren und nicht (sich) entwickeln sollen. Das ist schädlich für die Motivation. Eine gleichsam institutionell an SchülerInnen herangetragene Haltung der Anteilnahme für deren Lernwege kann so kaum entstehen. Eine Flucht nach vorn, eine Befreiung aus dem nach wie vor existierenden Modell von Untertan und Obrigkeit scheint unwahrscheinlich. „Um als Kollegium mündig zu werden, muss man einmal der Schulaufsicht die Gefolgschaft verweigert haben, die Weiterentwicklung einer Schule an ihren Weisungen vorbei betrieben haben“, heißt es in einem der jüngeren Aufsätze über Schulmanagement. Davon sind wir, nicht nur in Nordrhein-Westfalen, weit entfernt. Schwierige Zeiten für Fälle wie Cornelia.

JÜRGEN MIETZ

Der Autor ist Vorsitzender des Landesverbandes für Schulpsychologie in Nordrhein-Westfalen