juttas neue welt: Auf der Suche nach der entschleunigten Zeit
Wenn Steffen im Internet rumstochert, ist er völlig zeitgefühllos. Von wegen Real Time: „Die Stunden schrumpfen auf Sekunden zusammen“, entschuldigte sich der Online-Junkie, als er erneut eine Verabredung in den Sand geklickt hatte. Man könnte meinen, er habe einfach seinen Virilio ordentlich gelesen, aber ich musste ihn tatsächlich mal wieder aus dem Netz rausklingeln und an die frische Luft zerren.
Doch zugegeben: Die Zeitvertreibung durch Aufenthalte im Web kennt jeder Netzbürger – ob süchtig oder nicht. Das Internet ist in Wahrheit eine Stundenfressmaschine. Doch dagegen soll jetzt etwas unternommen werden. „Amerikanische Wissenschaftler wollen der grassierenden Flüchtigkeit ein Schnippchen schlagen“, erklärte mir Steffen aufgeregt – und ich dachte erst, jetzt sei er völlig übergeschnappt. Aber auf einer seiner ausgiebigen Surftouren hat er tatsächlich Unglaubliches entdeckt. Unter www.longnow.org konnte ich mich selbst davon überzeugen. Ausgerechnet der Mann, der den schnellsten Rechner der Welt erfunden hat (und damit ja nicht ganz unschuldig an der Rasanz des Lebens ist), will die Zeit entschleunigen. Gemeinsam mit Kollegen der amerikanischen Cyber-Elite und dem Ex-Roxy-Musiker Brian Eno hat sich der Informatiker Danny Hillis in den Kopf gesetzt, die Qualität der kleinsten Zeiteinheiten wiederherzustellen. Dazu haben die Zeitschinder die Long-Now-Foundation begründet und erklären auf ihrer Website ausführlich, wie sie das Jetzt lang machen wollen – nämlich mit einer Uhr, die nicht ganz richtig tickt und die an Langsamkeit nicht zu überbieten sein wird. Die Wissenschaftler tüfteln an einer begehbaren Maschine mit einer Lebensdauer von 10.000 Jahren, die nur einmal im Jahrhundert den Zeiger vorrücken wird. Sie wollen dadurch eine „neue, intensive Dimension der Zeitmessung“ schaffen, die das Bewusstsein für den Augenblick fördert (das dem surfsüchtigen Steffen, der beim kleinsten Netzwerkstau nervös rumzappelt, schon lange abhanden gekommen ist).
Das Uhrenmonstrum soll im ausgehöhlten Gipfel eines Berges in der Wüste von Nevada installiert werden. Bislang existieren aber lediglich ein zweieinhalb Meter großer Prototyp im Science Museum in London und viele Fotos und Skizzen auf der Website. Mit die Realisierung der gigantischen Uhr im Berg lassen sich die Wissenschaftler noch etwas Zeit – „Go slow“ ist schließlich ihr Motto.
Steffen hat sich direkt von der Begeisterung der Technostalgiker für die lange Weile anstecken lassen und tummelt sich permanent auf deren Seite, um den Bau der Berguhr ja nicht zu verpassen. Dass er dann sofort nach Nevada will, ist klar. Allerdings ist er auch dezent einsichtig geworden und gibt zu, dass er viel zu viel Zeit im Netz verplempert. Er hat deshalb die Eigeninitiative „Bewusstes Surfen“ gegründet, trägt mittlerweile seine Online-Zeiten ordentlich in ein Web-Horarium ein und macht in regelmäßigen Abstanden eine 10-minütige Surfpause. Dann zitiert er zur Entspannung deutsche Zeitgeister wie Goethe und Benn – „Der Augenblick ist Ewigkeit“ oder „Steigern sie ihre Augenblicke“ –, um sich daraufhin wieder guten Gewissens seiner Lieblingshomepage zu widmen.
Ich dagegen habe mir einfach das passende Buch zur Seite gekauft und las es an einem Abend, der mir unendlich lang erschien, weil ich wieder einmal vergeblich auf Steffen wartete. Da hat die Uhr im Berg, obwohl es sie noch gar nicht gibt, bereits ganze Arbeit geleistet.
JUTTA HEESS
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen