EU will strahlende Nachbarn

EU-Kommission befürwortet Aufbau von Nachfolge-AKWs für Tschernobyl in der Ukraine. Deal mit Russland: Ein AKW schließen, ein anderes aufrüsten. Vorrang bei Ausbau hat nukleare Sicherheit. Protest von Umweltschützern

aus Brüssel DANIELA WEINGÄRTNER

In ihrer ersten Sitzung nach der Sommerpause machte die EU-Kommission gestern klar, wo die Reise in der Energiepolitik hingehen soll. Die 20 Kommissare sprachen sich dafür aus, dass die beiden ukrainischen Kernkraftwerke Khmelnitsky 2 und Rovno 4 (K2R4) mit EU-Geldern fertig gebaut werden. Zusätzlich zu den geplanten Krediten der Europäischen Bank für Entwicklung und Wiederaufbau erwägt die Kommission einen Euratom-Kredit, der nach Informationen der Umweltschutzorganisation Friends of the Earth 610 Millionen US-Dollar betragen soll.

Gunnar Wiegand, Sprecher des für Außenbeziehungen zuständigen britischen Kommissars Chris Patten bedauerte, dass in der Öffentlichkeit die Entscheidung zugunsten einer Finanzspritze für die Nachfolger des Unglücksreaktors Tschernobyl so viel Beachtung fände. Schließlich gehe es der Kommission ausschließlich darum, die nukleare Sicherheit in Zentral- und Osteuropa zu erhöhen.

Tatsächlich ist die Entscheidung Teil eines Beschlusspaketes der Kommission für die Energiepolitik in Mittel- und Osteuropa. Beitrittskandidaten und Anrainerstaaten sollen durch Kredite dazu gebracht werden, völlig veraltete Reaktoren stillzulegen, die übrigen nach westlichen Sicherheitsstandards aufzurüsten. Mit Litauen, Bulgarien und der Slowakei gibt es bereits entsprechende Abkommen. Derzeit konzentrieren sich die Verhandlungen auf die Frage, wann Ignalina und Teile von Bohunice und Kozloduy abgeschaltet werden.

Mit den russischen Behörden will die Kommission besser ins Gespräch kommen. Da Russland auch in Zukunft auf Kernkraft setze, seien weitere Euratom-Kredite geplant, um die Sicherheitsstandards der Atomanlagen zu verbessern. Es sei beispielsweise daran gedacht, Kalinin 3 über Euratom mitzufinanzieren, falls Russland im Gegenzug einen Reaktor der ersten Generation dichtmache.

Friends of the Earth bezeichnete den Kommissionsbeschluss als zynisch. Das Geld werde gegen den Willen der Menschen in der Ukraine und gegen den Willen der meisten EU-Bürger ausgegeben. „Die Kommission führt einen einsamen Krieg, um die Atomkraftwerke zu retten“, sagte Patricia Lorenz von Friends of the Earth.

Auch die für Transport und Energie zuständige spanische EU-Kommissarin Loyola de Palacio brach gestern eine Lanze für die Atomenergie: Europa könne darauf nicht verzichten, sowohl aus energiepolitischen als auch aus ökologischen Gründen, sagte sie in Straßburg. Tobias Münchmeyer von Greenpeace wies darauf hin, dass in der EU kein einziges neues Kernkraftwerk mehr geplant oder gebaut werde. Die Menschen hätten das Vertrauen in die Kernkraft verloren.

Friends of the Earth erinnerten daran, dass in Österreich, Belgien, Dänemark, Irland und Luxemburg der Euratom-Kredit nicht unterstützt werde. Das dänische und das italienische Parlament hätten die Finanzspritze für K2R4 ebenfalls abgelehnt. Vor allem der deutsche Kommissar Günter Verheugen befindet sich in einer heiklen Situation. Während er in Brüssel für die Osterweiterung zuständig ist und daher den Tschernobyl-Beschluss gemeinsam mit Kommissar Patten zu verantworten hat, bemüht sich seine eigene Partei zu Hause darum, die Kernenergie stufenweise abzubauen. Ein weiteres Beispiel dafür, wie abgekoppelt von der politischen Willensbildung in den Mitgliedsländern die Kommission in Brüssel ihre Arbeit tut.