„Wir suchen in verschiedensten Richtungen“

Wie geht eigentlich das Theater mit den Menschen um? Ein Gespräch mit Matthias Hartmann, dem neuen Intendanten des Bochumer Schauspielhauses, und seinem Chefdramaturgen Thomas Oberender über politisches Theater, archaische Zonen und die Möglichkeiten, die Welt zu verändern (O ja!)

INTERVIEW: MORTEN KANSTEINER

taz: Bei aller Aufmerksamkeit, die Leander Haußmann als Intendant erregt hat, gründet der Ruf des Bochumer Schauspielhauses noch immer auf den 70er-Jahren, auf Namen wie Zadek und Peymann. Was wollen Sie machen, um dem Theater neues Leben zu verleihen?

Matthias Hartmann: Wir allein können das gar nicht. Gelingen kann das nur aufgrund einer Entwicklung der Wahrnehmung von Theater bei den Menschen insgesamt. Es gibt eine wiedererwachende Sensibilität für die Möglichkeiten des Theaters und seine Einzigartigkeit. Das hat mit der Überfütterung durch die elektronischen Medien zu tun und damit, dass die Menschen nach ästhetischen Alternativen suchen, nach etwas, was mit ihnen anders umgeht.

Sie wollen in der Tat die Welt verändern?

Hartmann: Es wäre schön, wenn wir das könnten. Jedenfalls kann ich nicht leben, ohne es zu versuchen. Und ich denke, dass das Theater – sowohl thematisch als auch formal – die Aufgabe hat, das zu müssen.

Wie macht man das?

Hartmann: Zunächst gibt es einen fundamentalen Unterschied zwischen politischem Theater, wie wir es verstehen, und dem, wie es in den letzten 50 Jahren definiert wurde. Da versuchten die Menschen, in das politische Tagesgeschehen einzugreifen und über die thematische Verknüpfung aufklärend zu wirken. Ich habe einen anderen Anspruch, der sich eher formal ästhetisch herleiten lässt.

Thomas Oberender: Wir müssen uns heute gerade den Zonen der Gesellschaft zuwenden, deren Probleme durch Politik eher nicht zu lösen sind – auch wenn sie das versuchen soll. Nehmen wir ein Phänomen wie Ausländerhass, nehmen wir die soziale Situation der Kleinfamilie: Natürlich versucht die Politik, da regulativ zu wirken, aber darüber hinaus gibt es da ganz andere Dimensionen, die mit Begriffen wie Liebe und Tod, mit Schmerz oder Freude zu tun haben. Wenn man heute politisches Theater machen will, muss man versuchen, in diese archaischen Zonen vorzustoßen und gerade da den Blick ansetzen, wo Politik versagt. Wir wollen im Sinne der Cultural Studies auf Mikrostrukturen gucken: Wie bewegen sich Menschen heute, und was ist das, was sie bewegt?

Hartmann: Darüber hinaus wollte ich ein Laboratorium installieren, das untersucht, wie Theater eigentlich mit Menschen umgeht. Ich glaube, auch darin liegt eine politische Dimension dieser Arbeit. Denn indem Menschen schauen und sich verändern durch das Schauen, kann man möglicherweise in Menschen Kräfte mobilisieren, die sie auch im normalen Leben gebrauchen.

Es gibt Elemente in Ihrem Vorhaben, die überschneiden sich mit dem Projekt von Robert Schuster und Tom Kühnel am Frankfurter TAT, wo auch Strukturen erforscht werden sollten, oder mit der Berliner Schaubühne, wo auch Bewusstwerdung provoziert werden soll. Diese beiden Projekte haben erhebliche Schwierigkeiten. Wie schützen Sie sich vor dem Scheitern?

Hartmann: Gar nicht. Wenn ich mich von Anfang an gegen das Scheitern schütze, entsteht keine gute Produktion.

Oberender: Das ist die eine Antwort. Und die andere ist natürlich, dass wir tatsächlich mit diesen genannten Theatern zwar konzeptionell durch einzelne Punkte eine sehr dichte Berührung haben, zum Teil sogar eine personelle, aber diese Theater als solche dem Bochumer Schauspielhaus gar nicht vergleichbar sind. Diese Theater sind ausgesprochene Segmenttheater, die sich gerade durch die Verengung ihres ästhetischen Profils in einer bestimmten Theaterlandschaft abgrenzen. Unsere Aufgabe ist fast diametral entgegengesetzt. Wir nämlich müssen versuchen, ein breites Bedürfnis einer viel breiter gestreuten Zuschauergemeinde kennen zu lernen und zu integrieren. Über Klassiker wie „Familie Schroffenstein“ und über große Schauspieler – aber in der Hoffnung, sie mit Regisseuren zusammenzubringen, die Unerwartetes mit ihnen machen. Oder Regisseure, die für eine bestimmte Art von konventionellem Theater stehen, mit einer Art von Stück zu koppeln, die das wieder spannend macht.

Hartmann: Das kann man an diesem Spielplan gut ablesen: „Tod eines Handlungsreisenden“ ist ein sehr konventionelles Stück – wir sind gespannt, was Jürgen Kruse daraus machen wird. Und Dieter Giesing, der für ein sehr konventionelles Theater gestanden hat, wird mit einem Martin-Crimp-Text natürlich auch zu neuen Ufern aufbrechen. Und mit Autoren wie Lukas Bärfuß und Kristo Sagor und Regisseuren wie Samuel Schwarz und Niklaus Helbling brechen wir auch auf zu ganz, ganz neuen Theaterversuchen.

Ganz, ganz neu? Könnten Sie das vielleicht an der Umsetzung von Thomas Oberenders „Geschäft und Leidenschaft“ beschreiben?

Oberender: Was wir in diesem Stück versuchen, ist, zu zeigen, was passiert, wenn erfolgreiche Berufsleute eine Art von beruflicher Verhaltenslogik oder auch beruflicher Sehnsucht auf die Privatsphäre anwenden. Unser Versuch, eine neue Form Beschreibung zu finden, zeigt sich auch in der Wahl des Regisseurs für dieses Projekt: Nicolas Stemann ist ein Regisseur, der mit Einfühlungstheater oder einem Guckkastentheater konventioneller Art überhaupt nichts am Hut hat. Der Text erfährt einen Widerstand durch einen Regisseur, der erst einmal nicht daran interessiert ist, die Figuren als klassische Rollen anzulegen.

Hartmann: Das ist auch eine Forderung von mir: dass wir uns jenseits aller Moden und Tendenzen auf verschiedene Ansätze verständigen. Wir haben ja nicht apodiktisch gesagt: „Unser Theater ist ein Theater der Beschleunigung“ oder „Unser Theater ist ein Theater der Affirmation“, wie die Kollegen von der Schaubühne bzw. vom TAT das getan haben, sondern wir suchen in verschiedensten Richtungen.

Riskiert man damit nicht, an Profil zu verlieren?

Hartmann: Ja, wenn wir das Profil darüber definieren müssten, dass wir uns gegenüber anderen Theatern abgrenzen, dann birgt das Schwierigkeiten in sich. Wenn wir allerdings auf unser eigenes Projekt und unsere eigenen Interessen schauen, dann ist die Pluralität von Ansätzen die einzige Art, wie wir hier arbeiten und leben wollen.

Oberender: Es wäre jetzt etwas zu billig, über unseren Spielplan zu schreiben: „Ein Theater der Verlangsamung“. Könnte man tun, wollen wir aber nicht. Wir wollen nicht wie Leander Haußmann das Motto „Viel Spaß“ ausgeben. Obwohl wir uns wünschen, dass es viel Spaß macht.