Kleine Bombe im System

Erst kommt der Sound, dann die Funkiness und am Ende eines arbeitsreichen Tages auch der Spaß: Mit seinem neuen Album „Rescate 137“ gemahnt der Techno-Veteran Cristian Vogel an die Ursprünge von Techno. „Man könnte meine Platte auch als Reaktion darauf sehen, was mit Techno passiert ist“

von THOMAS WINKLER

Die Wespe war unvorsichtig. Sie hatte sich zu nahe an das unruhige, auf seinem Sessel herumrutschende Männchen mit den tief liegenden Augen herangewagt, das plötzlich aufspringt, sich die taz des Tages vom Tisch greift und fuchelt und wedelt und nicht eher ruht, bis das Insekt ins Freie geflüchtet ist.

Wahrscheinlich eine Mischung aus wenig Schlaf, den richtigen Drogen zur falschen Zeit und dem gerade anstehenden Interviewmarathon, denkt es sich so dahin.

„Sorry for that“, sagt Cristian Vogel, als er schließlich ins Gespräch zurückkehrt. Mit einem vorsichtig zerknirschten Gesichtsausdruck legt er die Zeitung neben das Aufnahmegerät, als würde ihm jetzt gerade die Frage in den Sinn kommen, ob eine Wespe den ganzen Aufwand überhaupt wert ist. Plötzlich ist er wieder ganz der höfliche Engländer, bereit, Werbung zu machen für sein neues Album „Rescate 137“.

Es ist neben unzähligen Maxis und diversen Kollaborationen und Seitenprojekten das bereits siebte Solo-Album des vor 30 Jahren in Chile geborenen Vogel, der als Kind mit seinen Eltern nach Großbritannien auswanderte und vom eher beschaulichen Seebadeort Brighton aus in den letzten zehn Jahren wie kaum ein anderer an der Weiterentwicklung, Ausformulierung und Verfeinerung von Techno gearbeitet hat.

Konsequent am Rand

Techno selbst allerdings war kaum an der avantgardistischen Forschungsarbeit von Vogel interessiert. Techno hat sich lieber aufgemacht in den Mainstream, in die Charts, in den Pop: Zwei Tage nach diesem Interview werden nicht weit von diesem Hotelzimmer entfernt fast eine Million Menschen tanzen zu dem, was in der Allgemeinheit als Techno verstanden wird. Die Veranstaltung nennt sich Love Parade, ist nicht mehr aus dem Kalender der Hauptstadt weg zu denken und längst zu einem beachtlichen Wirtschaftsfaktor geworden.

Die Klänge, die zwei Tage später von den Lastwägen dröhnen werden, zu denen Waschbrettbäuche und stramme Pos zucken werden, die Klänge, die das Fernsehen live in die halbe Welt als den aktuellen Stand elektronischer Tanzmusik funken wird, sind allerdings nur entfernt verwandt mit dem, was Cristian Vogel darunter versteht.

Seit zehn Jahren produziert der schmächtige Mann mit dem Musikwissenschaftler-Abschluss, den er an der Universität Brighton beim Stockhausen-Schüler Jonathan Harvey erwarb, seine sich konsequent an den Rändern des aktuellen Standes im Techno bewegenden Platten, die nicht zufällig Titel trugen wie „We Equate Machines With Funkiness“ oder „All Music Has Come To An End“. Auf „Rescate 137“ sampelt Vogel nun erstmals sogar Weltmusik. Die momentan so angesagten brasilianischen Klänge ziehen sich durch seine Stücke allerdings bestenfalls noch als atmosphärische Ahnung. Vom beliebten Urlaubsflair bleiben nicht einmal Reste.

Ob seine Tracks so penetrant die Grenzen des Machbaren ausloten, weil sie sich stets darauf beziehen, was elektronische Musik jeweils zu leisten imstande ist, oder ob das Genre nur mehr schwerfällig hinter Vogel hertappert, ist schwer zu entscheiden und tut letztendlich auch nicht viel zur Sache. Interessanter ist da schon, dass man einen Vogel-Track trotzdem meistens erkennen kann an der Differenz zwischen der akademisch kalten Oberfläche des Sounds und der jederzeit vorhandenen Funkiness – ein Wort, das in keinem Artikel über Vogel fehlen darf.

Auch Vogel hat aufgelegt am Wochenende der Love Parade. Er war in Berlin, so wie die meisten anderen, die halbwegs vernünftig mit zwei Technics-Plattenspielern gleichzeitig umgehen können. Allerdings trat er im Tresor auf. Dort, wo er auch sonst immer auflegt. Dort, wo die Traditionen des Hauptstadt-Techno noch am konsequentesten gepflegt werden. Dort, wo Techno noch mehr ist als nur der Soundtrack zur großen Sause. Dort, wo man immer noch – wenigstens ein kleines bisschen – daran glaubt, dass Techno nicht nur den Tiergarten platt, sondern eine echte Revolution hätte lostreten können.

Auf dem Tresor-Label hat Vogel auch bis zu dieser Platte seine Solo-Alben herausgebracht. Zuvor veröffentlichte er auf dem Frankfurter Label Mille Plateaux. So waren seine Platten in seiner Heimat nur als Importe zu haben. Im Verbund mit seinem deutsch klingenden Namen blieb der kommerzielle Erfolg trotz euphorischer Kritiken aus. Selbst als „Head On“, das Debüt von Super-Collider, seinem gemeinsamen Projekt mit dem Produzenten und Vokalakrobaten Jamie Lidell, vor einem Jahr bei einer großen Plattenfirma erschien und dank großer Promotionmaschinerie nicht nur in alle verfügbaren Medien gedrückt werden konnte, sondern dort auch aufrichtig gefeiert wurde, verkaufte sich die Platte überaus schleppend. So versichert Vogel glaubhaft, dass er bis vor einem Jahr bei seinen DJ-Sets noch nicht einmal eigene Tracks auflegte, weil er der festen Meinung war, dass niemand zu seinem Sound würde tanzen wollen.

Sound Research Day

„Rescate 137“ erscheint nun endlich zu Hause auf Mute, und Vogel erhofft sich vom Label-Wechsel neue Hörerschichten und zum bereits überreichlich vorhandenem Ruhm auch ein bisschen Geld. Um endlich mal eine längere Pause machen zu können. Um ein bisschen Ausspannen zu können. Vor allem aber, „um wieder mehr in die ideologische und konzeptuelle Arbeit einsteigen zu können“. Denn auch wenn seine akademische Ausbildung „nur Musikjournalisten und meine Mutter interessiert“, hat sie doch zumindest den Vorteil, dass Vogel nicht nur Musik machen, sondern dass man sich auch mit ihm darüber unterhalten kann. Im Gegensatz zu vielen seiner Techno-Kollegen, die bei Erklärungsversuchen meist selten über das Motivationsmuster „Spaß“ hinauskommen.

„Spaß“ ist ein Wort, das auch Vogel benutzt. Allerdings erst am Ende eines langen Monologes über den Ablauf eines jener Tage, die die Grundlage seiner Arbeit bilden und von ihm Sound Research Days genannt werden. Ohne jede Vorgabe, nur mit Mikro und vielleicht einem Stück Metall, dessen Klangmöglichkeiten erforscht werden sollen, werden Sounds gesammelt. Erst auf „Head On“ hat Vogel erstmals andere Platten gesampelt, aber auch heute noch arbeitet er nahezu ausschließlich mit selbst Generiertem. „Gewöhnlich relaxe ich an diesen Tagen“, erzählt er, „rauche ein bisschen Gras, rufe ein paar Freunde an, ob sie nicht vorbeikommen und mit mir Geräusche machen wollen.“

Das aufgenommene Material wird später gesichtet. „Normalerweise entsteht an einem solchen Tag immer ein Sound, der zu einer Idee führt, die zu einem Song geformt wird.“ Diesen Prozess will Vogel nicht verglichen sehen mit traditionelleren Formen des Komponierens. Es gibt keine Vorstellung, keine Idee, die er mit dem ihm zur Verfügung stehenden Instrumentarium verfolgt, keinen Entwurf in seinem Kopf, dem er nahe zu kommen versucht. „Es ist eher so, wie ein Maler ein abstraktes Bild malt“, sagt er, „es findet eher ein Design statt. Bestenfalls hat man vielleicht eine Funktion im Auge: dass das Stück von DJs im Club gespielt wird oder dass man es gut mit einem morgendlichen Kater hören kann.“

Der Antrieb ist nicht ein spezielles Stück Musik, das umgesetzt werden will, sondern ein allgemeiner Drang: „Ich habe mich immer gezwungen dazu gefühlt, progressiv zu sein, mich zu bewegen, Veränderungen zu forcieren. Mit meiner Musik will ich Menschen dazu zwingen, über den Status quo nachzudenken – über den der Musik, nicht der ganzen Welt. So gesehen könnte man meine Platte wohl als Reaktion darauf sehen, was mit Techno passiert ist.“

Also als Gegenentwurf zu dem, was in den Charts stattfindet, wo die Errungenschaften der elektronischen Klangerzeugung des vergangenen Jahrzehnts preisgegeben werden, um immer belanglosere Teenie-Beschallung noch billiger produzieren zu können und so noch mehr Geld für Werbeetats frei zu bekommen. „Ich war immer interessiert an den Mechanismen des Musikgeschäfts“, sagt Vogel, „wie kann man das Business beeinflussen, wie kann man das Spiel offiziell mitspielen, aber seine Message behalten, doch weiter eine kleine Bombe mitten im System bleiben. Aber das ist ein schwieriges Spiel, weil man nur allzu leicht als ganz normales Rädchen in der Musikindustrie endet. Aber ich glaube weiter daran, dass die Stärke und Kraft in der Musik selbst liegt.“

So wie das Cover von „Rescate 137“ mit einem Foto, das Vogel im Urlaub in Chile schoss, auf seine persönliche Vergangenheit verweist, gemahnt die Musik auf „Rescate“ trotz aller Komplexität vor allem kompromisslos an die Ursprünge von Techno. Denn auch wenn Vogel als absolute musikalische Kategorie den nur schwer übersetzbaren Begriff „Newness“ benutzt, auch wenn es ihm vor allem darum geht, „feste Formen und statische Strukturen zu verzerren und verschieben“, ist ihm doch auch wichtig, dass man der Musik ihre Wurzeln anhört, „wie und auf welchem Wege sie so neu wurde, auf was sie sich bezieht, auf welchen Traditionen sie aufbaut“.

Archaische Ergebnisse

Also: einfach so tun, als seien die vor allem aufs Tanzen ausgerichteten Detroiter Anfänge von Techno und das Experiment von heute nicht entgegengesetzte Welten, einfach so tun, als wäre die Vergangenheit die Zukunft. Und tatsächlich: Die Idee von Funkiness, die Vogel propagiert, ist bis in die letzten Winkel ausgeforscht und ausgetestet, sehr nahe am Geist der frühen, kantigen Techno-Tracks. Damals lag das vor allem an den technischen Beschränkungen, die das steinzeitliche Equipment den legendären Produzenten auferlegte. Vogel benutzt nun die avancierteste Technik, um damit zu relativ archaischen Ergebnisse zu kommen. Einerseits. Andererseits sind seine Tracks im Gegensatz zu dem Kinder-Techno, der Charts und Massen-Raves verseucht, natürlich hochkomplizierte Angelegenheiten mit verschachteltsten Loops, verschränktesten Rhythmen und fiesesten Breakbeats.

Vogel würde sagen: „Wicked“. Mein Schwiegervater würde sagen: Ergebnis zählt. Und unterm Strich steht: Tanzen kann man zum einen wie zum anderen. Am Ende ist es wie mit Vollwaschmittel: Ob vom multinationalen Konzern oder vom selbst verwalteten Ökobetrieb, weißwaschen tun sie alle. Von manchem Zeug allerdings kriegt man nicht nur ein schlechtes Gewissen, sondern auch Hautausschlag und Kopfschmerzen.

Cristian Vogel: „Rescate 137“ (novamute/Connected)