Glaubensbrüder mit Kreuz auf der Brust

■ Die Leichtigkeit des Herzens wich der kardiovaskulären Insuffizienz. Seit der OP sind Antworten für den Kabarettisten und Journalisten Ulrich Reineking nicht mehr so klar wie ehedem. Eine herzerleichternde Lebensbeichte nach dem goldenen Schnitt

Fußknöchel angeschwollen, Wasser in den Beinen, Schlaflosigkeit über Wochen. Und plötzlich bleibt die Luft weg. Immer öfter. Auch ohne Treppensteigen. Und irgendwann, da geht nix mehr. Riens ne va plus, wie der Toto-/Lottospieler im Allgemeinen nicht zu sagen pflegt. Die Leichtigkeit des Herzens, sie ist der kardiovaskulären Insuffizienz gewichen.

Viele Jahre lang mindestens vierzig Kilo zuviel durch die Gegend getragen, durch lange Nächte und hektische Tage. War man denn ein Lightbier-Trinker? Ein Magermilch-Müsli oder gar Makrobidiot? Ein Tarifliche-Arbeitszeit-Einhalter? Ein Frühzeitig-auf-lange-Rente-Hoffender oder gar ein Ganz-Entspannt-im-Hier-und-Jetzt-die-Eier-schaukelnder-Hängematten-Buddh a sine ira et studio? Das nicht, ganz sicher nicht.

Sie müssen sich das so vorstellen. Die Herzgefäße sind durch Ablagerungen verengt, erhöhter peripherer Widerstand. Die Pumpe schafft's nicht mehr.

Danke Herr Doktor, DANKE. Und was nun? Was tun? Erstmal zwanzig Kilo runter, mehr Ruhe, mehr Bewegung ... vielleicht geht da was mit Ballons, die Gefäße durchputzen, Herzkatheter steht ja sowieso auf dem Programm.

Paar Wochen Fastenklinik, gute Vorsätze zuhauf, dann der kleine Eingriff, Leiste auf und durch: Man kann sich das im OP in lokaler Betäubung selbst mit anschauen.

Sehnse! Über achtzig Prozent dicht, da und da und da. Ohne Bypass nix zu machen.

Wennse Glück haben, könnte sein, Sie schaffen es auch ohne noch ein paar Jahre. Aber wennse mich fragen, lassense das machen. Sonst geht das schlagartig, und was dann ist ... Ich will Sie da nicht beeinflussen, ist ja ihr Körper. Aber wenn's kommt, dann kommt's. Schluss. Mit lustig sowieso.

Also doch. Bypass. Die Umgehungsoperation am Herzen. Einsetzen eines Gefäßtransplantats aus körpereigenem Gewebe. Hat doch heute schon jeder. Heiner Lauterbach. Harald Juhnke. Selbst Günter Pfitzmann von der Praxis Bülowbogen und der Chefarzt von der Schwarzwaldklinik. Nur Walter Kempowski nicht, der hat eingeschlafene Füße und Karokaffeeflecken auf dem Morgenrock.

Sie sind also in bester Gesellschaft. Und bittschön vorher nochmal zwanzig Kilo runter, dann macht das dem Operateur mehr Spaß und verheilt auch besser, sowieso.

Nochmals fasten, nochmals warten. Und immer schön vorsichtig sein. Schon die kleinste Anstrengung zuviel kann, ich mein, wir wollens nicht beschwören ...

Das Herzzentrum. Raumschiff der Hightech-Medizin. Hier in Bad Oeynhausen wurde vor zwei Monaten ganz ohne Tusch der Kurkapelle LIONHEART verpflanzt, das künstliche Löwenherz. Operation geglückt, Patient tot. Und die ganze Fachwelt starrt neidisch auf die goldenen Händchen der Operateure in Ostwestfalen.

BYPASS? Das ist hier doch gar kein Thema mehr. In zwei Schichten in zwei Operationssälen und nach Feiertagen auch schon mal rund um die Uhr. Das geht heute wie das Zündkerzenwechseln in der Kfz-Werkstatt, Stück für Stück im Stundentakt.

Was dem einen die Furcht einflößt, zum Objekt eines medizinisch-technischen Apparats zu werden – mich beruhigt das ein biss-chen. Hier, wenn der Tod hier kommt, hier hat er nix persönlich gegen Dich. Die Statistik ist auf deiner Seite, fast wie beim Charterflug.

Ich hab gewartet – sieben Monate und sieben Tage lang. Und morgen ist es soweit. Panischer Anruf bei der Bank. Habe ich die letzte Rate der Lebensversicherung überwiesen? Panischer Anruf bei der Lebensversicherung. Ist am Ende noch die Geschiedene als Begüns-tigte genannt? Alles in Ordnung, na bitte sehr. Letzte hektische Briefe, allerhand Willenserklärungen, in die Kladde geschmiert und eh nicht zu lesen. Wieviel Stunden habe ich noch?

Und gleich kommt die Schwester, um mich für die OP vorzubereiten. Vorbereiten? Schwester? Hoffentlich kommt die mürrische Alte mit dem mütterlichen Ammenbusen. Kommen aber die beiden hübschen jungen Dinger und rasieren an dir unten rum, als ob es Spargel zu putzen gilt. Plaudern über Kindersicherungen im Ford Fiesta, über das Stadtfest in Löhne und über den Grillabend im Schwes-ternwohnheim. Ob am Ende dort das wegen seiner im Dienst am Menschen um die biologischen Herzklappen gebrachte Schwein über der Holzkohle landet? O Peinlichkeit, so nimm dein Ende ...

Das wär's JUNGER MANN. Und wenns noch was zum Einschlafen brauchen, hier die Klingel an der Schnur, wissense ja.

Einkleiden für die Operation. Der drei Tage frische Bypass von nebenan humpelt auf seinem noch nicht amputierten Raucherbein in mein Zimmer und schnarrt im Kommisston das überlebste auch, die schießen hier auch nur mit Schrot.

Das OP-Hemd ist steril verpackt. Das OP-Hemd hat wie das vielbesungene Letzte keine Taschen – soll mich das stutzig machen? So ganz in Weiß vor den Schöpfer treten, ohne ein bisschen Schmutz dieser Welt – bekommt er damit nicht ein völlig falsches Bild von hier unten? Und mein Atemtraining in der Prae-OP-Gruppe, diese seltsame Prozedur mit den Plastikventilen, die wie ein kurioses Spielzeug zum Zeitvertreib für nörgelnde Kinder auf langen Autofahrten wirken – hätte ich die Blas- und Puste-Übungen nicht besser ernst nehmen sollen, statt das unter Beschäftigungstherapie zum Wohle gerissener Hersteller abzutun?

Nehmse das Medikament schon mal zur Beruhigung. Es geht gleich los. Zur Beruhigung. Wie beruhigend. Wenn jetzt auf einmal ein Hubschrauber zu hören wäre, dann wäre es vermutlich ein extremer Notfall. Und dann kommt der Plan durcheinander und mein Termin wird auf morgen verschoben und ...

Ein verzweifelter Anästhesie-Mitarbeiter hopst in das Zimmer, benötigt noch meine Unterschrift unter irgendwelche Kenntnisnahmen und Einwilligungen, na bitte, hier, der Stift, er schreibt sogar. Gute Kuli-Mine zum bösen Spiel machen oder was?

Verschieben ist nicht. Der Zivi kommt, der Wagen rollt. Ich wär ja so gern noch geblie-hieben, aber der Wagen, der rollt. Habe ich den Brief mit den väterlichen Ratschlägen für meine Tochter Ulrike auch abgeschickt? Tschuldigense, könnwir nochmal zurück in mein Zimmer? Nee, Sie haben Termin. Merkense denn noch nix von den Tabletten? Aber der Wagen, der rollt.

Wir sind da! Vor den Tempeln der neuen Vollkommenheit. Zunehmend mischen sich grüne und blaue Kittel in das blütenweiße Krankenhaus-Outfit. Der Zivi mit dem Rollbett nimmt die Kurven wie sein mutmaßliches Idol Schumacher in Monte Carlo. Ein sorgfältig zugedecktes Bett rollt vorbei – darunter der erste Kunstfehler oder Schicksalsschlag des Tages?

Mutti, ich habe Angst. Aber ich bin ein Waisenkind auf dieser Welt, und kein Weg führt zum Heil, denn der durch diese Pforte.

Ach diese grünen Männchen da im Fünferpack – mein OP-Team vielleicht. Gesandte eines hochentwickelten Universums, bereit, mich aufzunehmen in die Bruderschaft derer, die das Kreuz auf der Brust tragen. Das Narbenkreuz des großen Eingriffs am offenen Herzen, besiegelt durch den fix vernähten Reißverschluss am Bein, dort, wo das körpereigene Material auf eines halben Meters Strecke entnommen wird.

Keiner, der mich fragt, ob ich noch einen Wunsch hätte vor diesem Opfergang, doch immerhin wird meine Identität nochmals festgestellt, bevor ich in die Traumlosigkeit der Vollnarkose versinke.

Allerhand Sachverstand wühlt in mir. Schneidet ins Fleisch, zersägt das Brustbein, zieht die Strippen, macht mit mir, was geboten ist. Erstmals auf Erden vom Zwang zum selber Atmen befreit. Losgelöst von dieser Pflicht, die uns ansonsten bis zum letzten Stündchen auferlegt ist. Wird alles übernommen von der Maschinenwelt. Welch Glück, dass wir vor Brokdorf seinerzeit nur kurze Siege errangen – am Ende müssten sonst meine Kinder jetzt den Strom für all diesen Aufwand mit der Fahrradkurbel erzeugen und ich hätte das nicht einmal mitbekommen! Und haste wirklich nicht irgendwas davon mitgekriegt? Eine Frage von durchaus religiösem Charakter, Realitäten betreffend, um die man weiß und doch nichts Genaues nicht. Und haste nicht doch irgendwas mitbekommen? Natürlich nicht, du Dummerjan. Kein klein bisschen, du blöde Gans. Und ich bin/war nicht mal Manns genug, mir das Ganze im stilisierten Trickfilm anzuschauen, wie andere Mitkämpfer an dieser Front, die es zu wahren Peter Lustigs in der populärwissenschaftlichen Erklärung des Mysteriums gebracht haben.

Plötzlich Schreien, Lärmen, Hektik: Atme. Atme. Na klar tut das weh. Aber du musst atmen, hörst du, Bengel? Ein, Aus. Sonst wird das nix. Ein Ton, den ich kenne. Von der Geburt meiner Kinder, wenn die Hebamme die Liebste bedroht, anfaucht, bittet, bettelt, kommandiert: Mitmachen. Pressen. Jetzt!

Die nächsten Stunden überspringe ich. Die nächsten Tage auch. Wer jetzt käme, um mir zu sagen, dass sein Onkel schon dreimal Bypässe eingefummelt kriegte und erzählte, dass das doch heute alles Routine wäre, wer mir jetzt so käme, der müsste um sein Leben fürchten, wenn ich könnte wie ich wollte. Husten ist die erste Bürgerpflicht. Abhusten, mal vom kumpeligen Schulterklopfen der resoluten Pflegerin und mal von der Vibrationsplatte stimuliert. Abhusten, die verschleimten Lungen, trotz geklammerter Wunde, Mattigkeit und alledem. Dazu Durst, Durst, Durst, und besser doch nix trinken. Das Wundwasser muss raus, Gesetz der kommunizierenden Röhren vermutlich.

Ich liege so, und es tut weh, und ich liege so, und es tut weh, und das alles gehört dazu, und mein Bettnachbar weiß, dass er als junger Pimpf unter den Trümmern von Dresden liegend noch ganz andere Sachen mitgemacht hat, und das macht wütend, und die Wut lässt spüren, dass ich lebe. Lebe. Und wie das jetzt weitergeht, man weiß nicht recht. Irgendwie klingt Rehabilitation nach Resozialisierung – und ist es das, was ich will? Kommen wir so dem Reich der Freiheit näher? Werde ich es noch hier auf Erden erleben, dass der Löwe beim Lamm liegt und der Reiche den Armen zu Tisch bittet und ihm seinen Mantel gibt? Mit wem stürme ich das Winterpalais, wer lacht mit mir, bis dass der Turm der Herrschaft fällt.

Sagense mir, wennse noch was für die Nacht brauchen. Und morgen ziehen wir den Blasenkatheter raus, versprochen!

Na klasse. Und seit diesem Tag schaue ich bei Männern und Frauen mit geöffnetem oberen Knopf tief in Hemd und Bluse hinein und entdecke, dass wir mit dem Narbenkreuz schon ganz schön viele sind. Männer zumeist, aber die Frauen holen auf, ganz gewaltig.

Gibt es das Richtige im Falschen? Eine Frage, die vorläufig so stehen bleibt. Die Antworten sind längst nicht mehr so klar wie ehedem. Mein Gott, lass du nicht nur die Mullbinden dieser Welt erröten, hier, unter diesen Pflaumenbäumen, wo Thomas Münzer auf den Schrei der Hähne lauscht. An sich ist das heute ja alles reine Routine. Aber das wussten wir ja immer schon ...

Ulrich Reineking