„Ich war schon eine freche Sau“

Er entkam der Nazipolizei, überlebte Auschwitz und spielte als Rundfunkintendant der DDR die Beatles. Noch im Alter von 85 Jahren kämpft Kurt Goldstein für die Entschädigung der Zwangsarbeiter und gegen den Rechtsextremismus. Ein Porträt

von ANDREAS SPANNBAUER

Wenn Kurt Goldstein über die NS-Sklavenarbeiter spricht, spricht er im Plural. „Wir schulden ihnen etwas.“ Wir, das sind für den „deutschen Kommunisten jüdischer Herkunft“ mit den korrekt gescheitelten Haaren und der bunten, etwas ausgewaschenen Strickjacke die Deutschen. Wortlos drückt er dem Besucher in seiner kleinen Wohnung im Ostberliner Stadtteil Hellersdorf ein Fax in die Hände. „Lesen Sie Englisch?“ Erneut drohe sich die Auszahlung der Entschädigung ehemaliger NS-Zwangsarbeiter zu verzögern, steht darauf. „Ich traue der deutschen Wirtschaft jede Gemeinheit zu“, sagt Goldstein, Vizepräsident des Internationalen Auschwitz-Komitees mit ruhiger Stimme. Es klingt nicht erbittert, sondern überzeugt. „Wir schulden ihnen etwas.“ Es gibt wohl wenige Menschen in Deutschland, für die dieser Satz weniger zutrifft. Die Selektion der SS in Birkenau hat Goldstein überlebt, 30 Monate in einem Außenlager von Auschwitz unter Tage geschuftet, mehr tot als lebendig den Todesmarsch nach Buchenwald überstanden.

85 Jahre ist er jetzt alt. Die wachen Augen sind schon etwas schwach geworden. Wenn das Telefon klingelt, greift er zur Fernsteuerung des Fernsehers. Drei bis vier politische Termine täglich. An diesem Tag wartet noch ein Interview auf ihn. Am Nachmittag Besuch von jungen Linken. Am Sonntag Bücher signieren auf dem „Aktionstag gegen Rassismus und Neonazismus“.

Geboren am 3. November 1914, ist Goldstein ein „vorprogrammierter Kriegsgegner“. Sein Vater, im Ersten Weltkrieg schwer verwundet, stirbt kurz nach Kriegsende. Durch sein Kindermädchen, das aus einer Bergarbeiterfamilie in Dortmund stammt, lernt der Sohn einer jüdischen Kaufmannsfamilie schon früh, was es heißt, sich einen Kanten Brot zu teilen, den der Vater nach Hause bringt.

Im Alter von 14 Jahren sagen ihm zwei Studenten: „Die Welt muss gründlich verändert werden.“ Goldstein wird Mitglied der sozialdemokratischen Arbeiterjugend, macht vor der Reichstagswahl 1928 Wahlkampf für die SPD. Einer der ersten Regierungsentscheide des sozialdemokratischen Reichskanzlers Hermann Müller-Franken ist der Bau des Panzerkreuzers A. Als Goldstein auf einer Kundgebung der KPD in Hamm die Parole „Kinderspeisung statt Panzerkreuzer“ hört, geht ihm das Herz über. Schnurstracks marschiert er ins KPD-Büro, nimmt vorher noch seine Gymnasiastenmütze ab. Und wird Mitglied des Kommunistischen Jugendverbandes.

Am Morgen des 3. April 1933 soll Goldstein verhaftet werden. In der Arbeitersiedlung mit den kleinen Vorgärten kennt man die Schritte der Nachbarn. Diese Stiefeltritte gehören nicht dazu. Zwei Polizisten zeigen ihm den Haftbefehl. Goldstein, der gut aussehende, wohlerzogene 19-Jährige, bleibt höflich, lässt den Verfolgern beim Gang durch das Haus den Vortritt. Dann stößt er ihnen seinen Koffer in die Kniekehlen, schlägt die Tür hinter ihnen zu und verschwindet. „Ich war schon eine freche Sau“, freut er sich schelmisch.

Goldstein flieht über Luxemburg und Frankreich nach Palästina. Im Exil einrichten will sich Goldstein nicht. 1936 lässt er seine erste große Liebe in Palästina zurück und tritt in die Internationalen Brigaden ein, die in Spanien gegen Franco kämpfen. Doch die Republikaner verlieren den Bürgerkrieg. Ende 1938 fliehen die überlebenden Interbrigadisten nach Frankreich und werden dort interniert. Unter dem Vichy-Regime wird Goldstein im Juli 1942 nach Auschwitz deportiert.

Auf seinen Arm wird die Nummer 58866 tätowiert. Doch Goldstein gibt selbst hier nicht auf. „Wir müssen überleben, um der Partei zu dienen“, warnt ihn sein Mithäftling Hermann Axen, später der Chefredakteur des Neuen Deutschland. Goldstein aber kann die überall ausgehängte Parole „Räder müssen rollen für den Sieg“ nicht ertragen. Er mischt Sand ins Öl, um Rutschmotoren zu blockieren, ritzt Transportbänder an.

Kurz nach Kriegsende treffen Goldstein und seine Genossen, die inzwischen der Verwaltung des befreiten Konzentrationslagers Buchenwald angehören, immer wieder auf bettelnde Wehrmachtsangehörige. Drei Tage lang reagieren sie nur mit Verachtung. Am vierten Tag entscheiden sie, dass sie als deutsche Kommunisten auch weiterhin mit diesen Leuten leben werden. Von nun an gibt es Brot, Zigaretten, eine Fahrt im Auto.

Auch in der sowjetisch besetzten Zone bleibt der nunmehr 31-Jährige ein unbequemer Zeitgenosse. In Gera will er das Horst-Wessel-Haus in Geschwister-Scholl-Heim umbenennen. „Bayerische Katholiken! Dein Führer ist doch Thälmann“, schimpft der zuständige sowjetische Besatzungsoffizier. „Bist du Kommunist oder Faschist?“ Goldstein verlässt wütend den Raum. Aber er setzt sich durch. Und bleibt, nach kurzer Tätigkeit als FDJ-Vorsitzender in Westdeutschland, im Osten. Für den „Auschwitzer“ ist die DDR der Ort, an dem die NS-Verbrecher konsequenter als in der Bundesrepublik verfolgt werden, der Ort, an dem die Menschen nach 1945 gefragt werden: „Hast du früher auch Juden mitgejagt?“

Allen habe man diese Frage dennoch nicht stellen können, sagt Goldstein heute zum Rechtsextremismus in den neuen Bundesländern. Es waren zu viele. „Es gab nach dem Krieg vielleicht 10.000 Antifaschisten in der DDR. Bei der letzten Wahl 1932 hatte die NSDAP 15 Millionen Anhänger.“ Viele von ihnen hätten sich nur äußerlich das neue Kleid angezogen – und ihre Einstellung zu Hause an ihre Kinder weitergegeben.

Als Chefredakteur der „Stimme der DDR“ spielt er die verpönten Beatles. Auch später hält Goldstein Distanz zu Erich Honecker und geht 1980 als Vorsitzender der Internationalen Föderation der Widerstandskämpfer nach Wien. „Wir haben mit dem Irrtum gelebt, dass es sich um Irrtümer handelt“, sagt er über sein Bekenntnis zur DDR.

Die Mauer zerbrach. Die Überzeugung nicht. Noch heute lächelt Goldstein über das Wort des britischen Premierministers Winston Churchill, es habe kein Herz, wer mit 15 kein Kommunist werde, aber keinen Verstand, wer es bleibe. Goldstein hat noch immer eine Mission zu erfüllen. Das hält ihn auf den Beinen.