Nackichte Texaner

Auf der größten Gipfelkonferenz der Geschichte treten sich die Journalisten in New York gegenseitig auf die Füße. Aber was gibt’s zu berichten?

aus New York TOBIAS MOORSTEDT

Eigentlich ist das schon viel zu gut, um wirklich wahr zu sein: Ein Dutzend Kameras drängt sich um den jungen Schönling, der – mit nichts als einem engen, blitzsauberen Slip bekleidet – die First Avenue in New York hinuntertanzt. Auf seinem Blondkopf sitzt ein Cowboyhut, um die muskulösen Schultern hat er eine amerikanische Flagge geworfen. Mit texanischen Akzent singt er wieder und wieder, „We are the world – you’re not“, und deutet lachend auf den Wolkenkratzer am Ufer des East River.

Nun gibt es ja in New York jede Menge Verrückte. Und wahrscheinlich wäre der Texas-Adonis in der morgendlichen Rush-Hour gar nicht weiter aufgefallen, wenn nicht gerade der Millenniumsgipfel der Vereinten Nationen offiziell eröffnet worden wäre und 5.000 Polizisten das UN-Gelände abgesperrt hätten, von denen ihn nun zwei kopfschüttelnd abführen. Die überreichlich anwesenden Medienvertreter jedenfalls waren von dem Hauch Protest und Subversion vollkommen fasziniert. War doch bis dahin nicht viel geschehen auf dem größten Gipfeltreffen der Weltgeschichte.

Natürlich ist der Gipfel wichtig. Haben sich doch noch nie so viele Staatspräsidenten (99), Regierungschefs (48), Vizepräsidenten (11) sowie mehrere leibhaftige Könige zu einer Zeit am selben Ort versammelt, um über die „Probleme, Chancen und Herausforderungen“ zu sprechen, die das anbrechende 21. Jahrhundert so mit sich bringt. Dazu soll nach Willen des UN-Generalsekretärs Kofi Annan jeder Staat seine Meinung sagen: In ausgeloster Reihenfolge spricht also der ehrenwerte Bharrat Jagdeo, seines Zeichens Präsident von Guyana, nach dem amerikanischen Granden Bill Clinton. Fünf Minuten Redezeit nur – beide, gleichwertig, scheinbar. Ein Sieg der internationalen Demokratie und des Respekts. Und ein sicheres Mittel gegen Inhalt und Bedeutung. Gerade spricht Lester B. Bird, ein mächtiger Mann und Regierungschef von Antigua. Das rote Lämpchen neben ihm zeigt blinkend an, dass seine Redezeit bereits abgelaufen ist. Aber eigentlich interessiert das auch keinen, hat man doch Ahnliches bereits 26 Mal an diesem Vormittag gehört.

Ein Stockwerk tiefer herrscht Langeweile im restlos überfüllten Pressezentrum. Phlegmatisch sitzen hunderte von Journalisten in den Ledersesseln, über Kopfhörer den Staatschefs lauschend und ratlos auf die Tastaturen starrend, die in Ermangelung von Schreibtisch und Bewegungsfreiheit auf den Knien liegen. Und wo ist die große Geschichte? Wegen der doch Tausende von Journalisten aus allen Ländern der Erde gekommen sind? Die Betontunnel unter dem UN-Gebäude sind verstopft, alle Computer besetzt. Nur der Unfähigkeit oder der Überlastung der UN-Presseabteilung ist es zu verdanken, dass noch keine genauen Zahlen über die Anzahl der Akkreditierten vorhanden sind. Und wenn die Aufmerksamkeit bei Clinton, Putin, Schröder, Blair schon nicht gewaltig ist, dann sinken bei den Auftritten von Tadschikistan, Swasiland und den Salomoninseln endgültig die Kugelschreiber.

Viel passiert hier nicht, was auch der Grund für das plötzliche Starpotential des nackten Texaners draußen vor dem Gebäude ist. Still verzweifelt sitzen viele Journalisten auf den alten Sofas in den Gängen, hoffend auf eine Katastrophe, einen Eklat, Streit oder Unfall. Damit sie ihre schon längst fällige Reportage nicht mit einer Nichtigkeit beginnen und beschließen müssen, wie etwa dem – zugegebenermaßen – recht formidablen Wetter.