Mond über Blumenthal

■ Im exotischen Bremer Norden ließen HK Gruber und das BBC Philharmonic Brecht/Weills exotisches „Mahagonny“ erblühen

Ein echter work in progress: Erst waren's fünf Gedichte in Brechts 1927 erschienenen Gedichtband „Hauspostille“. Die vertonte Kurt Weill für kleines Orchester (zwei Streicher, sechs Bläser, Klavier, Schlagzeug). Nach der Uraufführung beim bedeutenden Musikfestival Baden-Baden freut sich Brecht über einen „15-Minuten-Skandal“, aber immerhin ein Kritiker schreibt: „Die Sensation des Abends war Mahagonny“.

Weill/Brecht'sche Zwischenspiele folgten: sensationeller Erfolg mit der „Dreigroschenoper“ zur Einweihung des Theaters am Schiffbauerdamm 1928, was zur Folge hatte, dass sich Technikfreund Weill sein erstes Auto leistet konnte; dann „Berliner Requiem“, „Lindberghflug“. Bei der Ausdehnung des „Songspiels“ Mahagonny zur großen Oper „Aufstieg und Fall der Stadt Mahagonny“ mutiert die Goldgräberstadt vom utopischen Gegenentwurf zum Modell des Kapitalismus.

Die Uraufführung in Leipzig 1930 wurde gestört durch organisierte Deutschnationale und Faschisten, nicht nur wegen der politischen Tendenz, sondern wegen der eigentümlichen kritischen Sympathie gegenüber Prostituierten, Boxern und anderweitigen Strolchen. Drohendes Aufführungsverbot, Absage der geplanten Aufführung in Oldenburg, aber Riesenerfolg mit 40 Aufführungen en suite 1932 in der Hauptstadt, diesmal mit einer Schauspieler- statt einer Sängerbesetzung.

Die Ergebnisse der vierjährigen hochproduktiven Brecht/Weill-Connection standen nie in reinem Widerspruch zur Gesellschaft. Von Anfang an pendeln sie merkwürdig zwischen gesellschaftlicher Anerkennung, ja Festival-Glamour, und Widerstand. Da geht es schon in Ordnung, wenn sie heute von einem Luxusklangkörper in einem vom Wirtschaftsressort gesponserten Fest in der rüden Backsteinkulisse einer Wollkämmerei aufgeführt werden: Sekt in der Pause und hinter dem Damm ziehen schrottige Kähne auf der Weser ihrer Wege.

Um elf Uhr schließlich fährt eine Phalanx aus Audis, BMWs, etc. entlang der gespenstischen Reihe jener Straßenlaternen, die während der Aufführung die Fenster der Lagerhalle in surrealem Orange erstrahlen ließen. Selbst der moralitätszerrüttende Hurrikan des Librettos stellte sich ein, wenn auch nur als lauer Regen. Gott allerdings blieb aus.

Unbestreitbar bringt die location Vorteile, zumindest den, dass man sein Pausenbier mit in die zweite Runde nehmen kann und eigene Gelüste stillt, während Jack O'Brien sich an ganzen Kälbern zu Tode frisst und dazu Wortmüll von dadaistischer Banalität absondert: „Sehet mir zu, ich ess“. Anfangs hat das Ohr die üblichen Schwierigkeiten, die durch die Technik auseinandergerissenen Ebenen von Solisten, Orchester und Chor halbwegs wieder zu integrieren. Aber wenn ein Klarinetten-Saxophon-Duett an einer Stelle lauter abgemischt ist wie die geballte Chorpower, dann kann man immerhin darüber streiten, ob das als Manko oder Gewinn anzusehen ist.

Die kahle konzertante Aufführung dieser sinnenprallen Oper befriedigte mehr als erwartet, weil Weill eben doch gewichtiger ist als der geniale Melodienfinder mit schnödem handwerklichen Geschick, für den man ihn manchmal zu halten neigt. Das heftige Springen zwischen spätromantischem Pathos, choralartiger Feierlichkeit, derbem Poltern und simplem Liebreiz wirkt ziemlich zeitgemäß in der Epoche der Postmoderne (auch wenn manche behaupten, dass diese längst abgehakt sei).

Natürlich vollzieht das BBC Philharmonic die rasanten Farbwechsel aufmerksam mit, auch wenn – kleine Pingeligkeit am Rande – manche Schnulze vielleicht noch mehr ironiegesättigte Überzeichnung durchaus vertragen könnte. Dirigent HK Gruber, der schon mal mit der Bremer Kammerphilharmonie an einem Weill-Projekt arbeitete, hat vor allem ein glückliches Händchen für die tausenderlei Formen, mit denen die Musik immer mal wieder einfalts-pinselig auf dem Metrum herumklopft, zwischen besoffenem Schunkeln und zackigem Marsch-Humtata. Damit wird Brechts begnadete Anti-Wortkunst à la „Spuke den Kaugummi aus, wasch erst deine Hände“ glücklich ad absur-dum geführt.

Das Liebespaar Gabriel Sade und Marie McLaughin, aber auch die anderen Solisten vergessen niemals jenen klassischen Stimmbildungsunterricht, den eine Lotte Lenya nie genossen hat, was man unterschiedlich beurteilen kann. Sade ist ein schalkiger und zugleich intensiver Mime voller Empathie, was allerdings verschenkt ist, wenn man ihn hinterm Orchester versteckt. Bleibt die Frage offen: Wo verdammt ist in Blumenthal „the next whisky bar“? bk