Im Gefühlspanzer

Dieter Wellershoff erzählt von den Punkten, an denen alles, was man tut, falsch ist: „Der Liebeswunsch“ zeigt Paare auf schwankendem Boden

von WERNER JUNG

Nun ist er also wieder da, der Spezialist für schnelle Abgänge: Dieter Wellershoff. Klaus Jung etwa, Protagonist des 1977 erschienenen Romans „Die Schönheit des Schimpansen“, bringt sich lautlos im eigenen Wagen um, indem er Abgase ins Innere leitet; Ulrich Vogtmann aus „Der Sieger nimmt alles“ von 1983 stirbt ähnlich lautlos-einsam in einem Hotelzimmer. Und nun stürzt sich am Ende des neuen Romans Anja, eine der vier Hauptfiguren, rücklings über eine Balkonbrüstung im 14. Stock. Sie will Schluss machen, für immer: „Schluss mit den Täuschungen, den Demütigungen, der Angst und der eigenen Schwäche.“ Wer ist die junge Frau, und was hat sie in diese ausweglose Lage gebracht?

„Manchmal denke ich, dass ich nicht sie erklären muss, sondern mich, mein Interesse an ihr, das so spät, fast sechs Jahre nach ihrem Tod, wieder in mir erwacht ist.“ Das ist der erste Satz des Romans. Wer spricht hier, welches Geheimnis verbirgt sich dahinter? Sogleich wird der Leser in einen Sog gezogen, für den die Wellershoffschen Texte bekannt (und nachgerade berüchtigt!) sind, woraus man sich nur schwer befreien kann – selbst am Ende nicht, als die Geschichte aufgelöst ist, sich die Strukturen geklärt haben. Nach einer Reihe von Drehbüchern zu Fernsehfilmen während der 80er-Jahre und dem Erzählband „Die Körper und die Träume“ von 1985, die teils en miniature, teils kammerspielartig Liebeswahn und Beziehungsfuror in einer (post)modernen Erlebniskultur und einer (spät)kapitalistischen Gesellschaftsordnung vorgeführt haben, liegt nun mit einiger Verspätung der große Roman, die große Erzählung vor.

Einmal mehr zeigt in „Der Liebeswunsch“ der Kölner Schriftsteller, Essayist und Medienautor, dass der psychologische Realismus seine Sache ist – dass Literatur, wie er nicht müde wird zu betonen, eine tiefernste, nämlich existenzielle Angelegenheit darstellt. Sie ist (in Wellershoffs eigener Formulierung, die allein schon ihm einen Stammplatz in der Literaturgeschichte nach 1945 sichern wird) eine „Probebühne“ für das wirkliche Leben, ein Simulationsraum, in dem dem Leser Fallgeschichten vorgeführt werden, an deren Deutung er zu arbeiten hat. Denkarbeit mithin. Der Autor erzählt nur Geschichten, schlüpft in Figuren hinein, die er zumeist in erlebter Rede porträtiert, ohne zu deuten, zu erklären oder zu interpretieren. Das ist vielmehr die Aufgabe des Lesers, jedes Lesers – und es ist zugleich beunruhigend!

Köln in den 90er-Jahren, genauer noch: das Köln des gehobenen Bürgertums, der Ärzte und Anwälte, Akademiker und Kulturschickeria. Der diskrete Charme der Bourgeoisie halt. Hier spielt sich das Leben der vier Protagonisten ab: des Richters Leonhard, der nach einer gescheiterten Ehe mit der Ärztin Marlene eine neue Verbindung mit der wesentlich jüngeren Anja eingegangen ist, und des ebenso erfolgreichen Chirurgen Paul, der nun mit Marlene zusammenlebt. Doch nicht nur die Freundschaft der beiden Paare steht auf schwankendem Boden, stellt, in den Worten Pauls, eine immer brüchiger werdende Konstruktion vor, nachdem er, Paul, sich Anja (zeitweise) zur Geliebten genommen hat; nein, mit fortschreitender Geschichte erweist sich einmal mehr – und darin besteht eine der Meisterschaften von Wellershoffs Erzählkunst –, dass die Erwartungen und Hoffnungen aller Figuren, ihre, um die moderne Soziologie zu bemühen, auf Liebe und Partnerschaft setzenden Biographieplanungen, zum Scheitern verurteilt sind, weil sie zufällig an die falschen Personen geraten. Die längste Zeit macht man sich daher etwas vor, sich selbst und dem oder den anderen – vergeblich, denn mit Macht widersetzt sich die Realität mit ihren Forderungen und Ansprüchen dem schönen (tatsächlich aber: hässlichen) Schein, zerstört die Idiosynkrasien und durchlöchert die Lebenslügen.

Nicht bloß Anja, die ohnehin von Anfang an wie ein Fremdkörper in dieser besseren Gesellschaft gewirkt hat, büßt ihr Leben ein, auch die anderen bleiben mehr oder weniger auf der Strecke: als Gefühlskrüppel, hart und gepanzert wie Marlene, die sich auf ein Singledasein eingerichtet hat, oder auf der anderen Seite infantil-flatterhaft wie Paul mit seinen kurzfristigen Affären; schließlich Leonhard, der, tief gekränkt, von der Ehe als einem gescheiterten Projekt spricht und sich zurückzieht.

Es existieren wohl diese Punkte im Leben, an denen es, wie es Paul einmal dämmert, „nichts Richtiges mehr gibt“ und alles, was man sagt oder tut, einfach falsch ist; und mit Sicherheit ist es auch so, wie sich Marlene einmal äußert, dass „Gewohnheit und Praxis“ eine „Schutzschicht“ ausbilden, die im Alltag zwar Bedrohliches abwehrt, um dahinter oder darunter aber noch weit gefährlichere Bezirke aufklaffen zu lassen. Ob das Glück eben immer bloß anderswo weilt? No way out – wie weiter? Welcher Leser und welche Leserin findet darauf die Antwort?

Dieter Wellershoff: „Der Liebeswunsch“. Kiepenheuer und Witsch, Köln 2000. 396 Seiten, 42 DM