Gänseleber für Zoophyten

Wahre Lokale (36): Gibt es auch „unwahre Lokale“? Eine Zwischenbestellung

Da es die Wahrheit bekanntlich nicht gibt (bestenfalls Wahrheiten), gibt es natürlich auch nicht mein wahres Lokal. Bin ich Zoophyte, ein Hohltier oder ein Schwamm, dass ich tagaus, tagein, rund ums Jahr immer nur ein und denselben Standort bevorzuge? Mal will ich eine Currywurst essen, mal getrüffelte Gänseleberpastete. Mal will ich Bier trinken, mal Wein. Mal will ich meine Ruhe, mal will ich Trubel. Mal will ich allein essen und trinken, mal mit Freunden. Mal bin ich auf dem Lande, mal in der Großstadt. Na und so weiter. Wahre Lokale? Kenn ich für jedes Bedürfnis mindestens zehn.

Fraglicher wäre schon, was denn für mich, wenn ich ein Lokal aufsuchen will, das wahre Bedürfnis dabei ist, sprich: das, was mich recht eigentlich an dem Lokal in das Lokal zieht. Das wahre Lokal-Bedürfnis also. Denn beim Bedürfnis nach Currywurst, Gänseleber, Bier, Wein, Ruhe oder Trubel ziehen mich ja eben diese Desiderata in die entsprechenden Lokale beziehungsweise das Wissen darum, in welcher Qualität mir das Lokal das Ersehnte servieren wird. Grob gesagt: Gäbe es in meiner Eldinger Dorfkneipe eine exzellente Gänseleberpastete, führe ich nicht 25 Kilometer weit in den Celler „Endtenfang“ – die Qualität der Pastete zählt, nicht das Lokal.

Was aber will ich, wenn ich in ein Lokal will, ohne dass mich Küche oder Keller locken? Was will ich, wenn ich das Lokal um des Lokals willen will?

In den letzten Jahren habe ich ein sich steigerndes Bedürfnis, einfach nur dazusitzen. Gut – das kann man natürlich auch zu Hause machen. Aber dann kommt irgendwann die geliebte Frau und hat dieses oder jenes Bedürfnis. Oder der Blick fällt auf die vielen ungelesenen Bücher. Die vielen unbeantworteten Briefe. Die vielen ungeschnittenen Grashalme. Die vielen unsortierten Fotos. Die vielen ungesehenen Fernsehsendungen. Die vielen unbesuchten Freunde. Die vielen ungeschriebenen Aufsätze. Und schon ist es aus mit dem Einfach-nur-Dasitzen.

In Lokalen dagegen kann man wunderbar einfach nur dasitzen. Jedenfalls in den wahren Lokalen. Freilich gibt es auch hier mehrere „Wahrheiten“. Grundvoraussetzung ist natürlich, dass man allein ist – was nicht immer heißen muss, das Lokal hätte leer zu sein. Meine ersten angenehmen Erfahrungen mit dem Rum- und Dasitzen machte ich vielmehr in ausgesprochen gut besuchten und weitläufigen Bierhallen wie dem Kölner „Päffgen“ oder dem Zürcher „Zeughauskeller“. Beides Orte, die herkömmlicherweise als Horte der Geselligkeit gelten, in denen ich aber vorzugsweise allein sitze. Beides Orte, die keiner „Szene“ angehören, die vielmehr soziologisch breit gestreutes Publikum aufweisen – eine unabdingbare Voraussetzung dafür, in der Menge allein sitzen und seine Ruhe haben zu können. Was natürlich genau der Reiz an solcher Sorte Orte ist: Teil eines allgemeinen Trubels zu sein, ihn aus nächster Nähe erleben zu können, ohne ihn (was in Szenelokalen unweigerlich der Fall wäre) mitmachen zu müssen.

Solcherart großdimensionierte Orte sind für mich die wahren Lokale zwischen circa 12 und 16 Uhr. Von selbst versteht sich dabei eine heutzutage durchaus als gehoben geschätzte, vor mehreren Jahrzehnten noch als „gut-bürgerlich“ bezeichnete Qualität der dargebotenen Getränke und Speisen: wohlschmeckende Kalbshaxen, Thüringer grüne Klöße, Rievekooche, Waatländer Bratwürste, Steinpilzknoblauchpfannen oder Brettljausn sind in solchen Lokalen selbstverständliche Begleitumstände des Einfach-nur-Dasitzens, aber nie Haupt- oder Selbstzweck.

Zwischen circa 17 und 20 Uhr sind meine wahren Lokale noch leere, gerade öffnende Bars. In diesen muss man natürlich am Tresen sitzen, am ersten Martini dry des Tages nippen und dem Barmixer zusehen, wie er mit hocheffizienten und wohl eingespielten Griffen sein abendliches Tagwerk vorbereitet: Es ist eine wahre Lust, Menschen, die von ihrem Beruf begeistert sind und ihn perfekt beherrschen, bei der Arbeit zu beobachten, vor allem, wenn es eine so segensreiche Tätigkeit wie das Zubereiten von drinks ist.

Dabei sollte man allerdings „Bars“ vermeiden, in denen einem der Mann hinter der Theke noch nicht einmal sonderlich bedauernd mitteilt, der Chef sei nicht da und nur der wisse, wo das Barbuch mit den Rezepten liege und – nein, er selbst habe noch nie was von einem Martini dry gehört. Ist mir mal in Celle passiert und war natürlich nicht das wahre. Nein, wenn man schon am frühen Abend das Hopper‘sche „Nighthawk“-feeling bekommen will, muss man zum Beispiel in Wien in „Banes Bar“ gehen (wo der Martini durch einen eiskalten, rosa Schilcher ersetzt werden sollte, begleitet von einem Verhackert-Brot) oder in Zürich in die „Widder-Bar“ (wo man natürlich auch nicht zu seinem Martini kommt, sondern ein oder zwei der über 200 dort vorrätigen Whisky-Sorten probiert und erleben kann, wie der akrobatische Bartender die Barleiter als Fortbewegungsmittel benutzt) oder in München zu „Schumann’s“, wo es dann endlich einen perfekten Martini gibt (Bombay Sapphire mit einem Hauch Noilly Prat). Diese Bar freilich muss spätestens um 19 Uhr wieder verlassen werden, bevor sie ihrem Ruf gerecht und zur Prominentenhölle wird.

Ab 20 Uhr gibt es beim wahren Einfach-nur-Dasitzen nur noch diese Alternative: bei schönem Wetter der „Feuerwehrwagner“ in Grinzing, bei schlechtem Wetter das „Alt-Weimar“ in Weimar. Alles andere ist unwahr.

BERND RAUSCHENBACH

Hinweis:Bin ich ein Hohltier oder ein Schwamm, dass ich immer nur denselben Standort bevorzuge?