Der Mann in der Lücke

DAS SCHLAGLOCH
von VIOLA ROGGENKAMP

„Wir sehen alle nicht so gut aus, wie wir aussehen könnten.“ (Volker Rühe, stellvertretender CDU-Vorsitzender)

Nur ganz frühmorgens, wenn die Pädagogen in die Schule müssen, oder ganz spätabends, wenn die Karrieristen ihre In-Lokale endlich verlassen, bekomme ich einen Parkplatz in meiner Straße. Sonst nie. Gestern mittag musste es aber sein. Mein Wagen war voll gepackt mit Wein und Mineralwasser. Ich erwartete vier Freundinnen zum Essen und Diskutieren. Es sollte Lammkoteletts an Kartoffelpüree mit frischem Pesto geben. Unser Thema würde diesmal die Frage sein: „War Anna Freud lesbisch?“, und kein Parkplatz vor meiner Haustür oder auch nur in der Nähe.

Ich fuhr die Straße langsam suchend ab und entdeckte einen Mann, Ende zwanzig, vielleicht Anfang dreißig, der in seinem geparkten Auto hinterm Steuerrad saß. War er gerade gekommen? Würde er wegfahren? Ich hupte fragend. Er reagierte nicht. Sein Fenster war heruntergelassen. Sein Arm hing heraus. Nach intensiver Anstrengung, mich bemerkbar zu machen, wandte er sich mir mit dem Ausdruck völliger Überraschung zu, hob die Augenbrauen, öffnete breit die stählernen Kinnladen und schüttelte schmerzlich grinsend seinen Kopf.

Es soll inzwischen Menschen geben, die in ihrem Auto sitzen, um den Parkplatz zu genießen, den sie sich erobert haben. Dieser Mann hier, der sich betont unverkrampft gab, wirkte schwer gereizt. Ein großer Junge mit Stoppelkopf in einem teuren, schnellen Auto. Da ich nicht wegfuhr, sondern den Motor abstellte, um auf seinen oder einen anderen Parkplatz zu warten, stieg er langsam aus. Teure Knitterware umhüllte seinen trainierten Körper. Er rollte die Schultern, warf einen ernsten Blick ins Autoinnere und ging prüfend um den Wagen herum. Mit der Fußspitze tippte er gegen eine Radkappe, sah dann auf und hinweg über mich in meinem Wagen. Er schien auf jemanden zu warten und würde also aller Voraussicht nach bald wegfahren. Ich machte es mir bequem und dachte an Freuds Tochter.

„Anna Freud“, schreibt der Psychiater Uwe Henrik Peters, „hätte die große Mutter oder die große Lesbierin ihres Jahrhunderts“ sein können. Wieso nicht beides? Menschen werden so einseitig wahrgenommen, wie man sie (unbewusst) wahrnehmen will. Zum Beispiel entwickelte der dynamische Junge vor meiner Windschutzscheibe auf einmal einen Sauberkeitsfimmel, wie er selbst ihn wohl nie sich, sondern nur Hausfrauen unterstellt haben würde.

Er war vor seinem Kofferraum stehen geblieben. Mit offenem Jackett, die Hände in den Hosentaschen, bückte er sich über die Heckklappe seines Autos und legte dabei den Kopf schief. Er hatte etwas entdeckt. Auf dem Lack. Ganz deutlich. Etwas, was da nicht hingehörte. Er zog seine linke Hand aus der Hosentasche und tupfte mit dem Zeigefinger auf das Etwas auf dem Lack. Dem Etwas hatte die Berührung seines Fingers offenbar nichts anhaben können. Er steckte, ohne den Blick von dem Etwas zu wenden, seinen Zeigefinger in seinen Mund und versuchte es mit Spucke. Das Etwas war weg. Er war zufrieden. Er sah auf und war unzufrieden. Ich war noch da. Er ging um den Kofferraum herum, öffnete die vordere Wagentür und beugte sich ins Autoinnere.

Das Innere seines Wagens ist der Innenraum des Mannes. CD-Halter, Handyhalter, Bierflaschenhalter, und darüber troddelte ein Amulett am Rückspiegel. Einsteigen und weg, hinaus in die Welt. Aber nein. Er konnte nicht weg. Er musste den Parkplatz hier halten. Sein unter hellem Knittertuch verborgener Hintern schob sich aus dem Autoinnern. Dann warf er die Wagentür zu – nicht ohne vorher noch seinen Kopf herausgezogen zu haben – und überprüfte erneut die Sachlage an der Heckklappe.

„Als große Mutter“ werde Anna Freud nicht gesehen, hatte der Psychiater in seinem Aufsatz geschrieben, obwohl sie sich ihr ganzes Leben als Kinder- und Jugendanalytikerin „um das beste Wohl unendlich vieler Kinder“ bemüht habe. „Als Lesbierin nimmt man Anna Freud nicht wahr, obwohl sie über fünfzig Jahre lang mit ihrer Freundin Dorothy Burlingham unter einem Dach“ lebte.

Das ist wahr. Allerdings wechselten die Dächer, unter denen die beiden Frauen von 1926 bis zu Dorothys Tod 1979 zusammen waren. Das erste Dach war das Dach von Mutter und Vater Freud. Anna zog mit ihrer Dorothy ein Stockwerk höher, über der elterlichen Wohnung ein. Keine der beiden Frauen putzte. Sie hatten Personal.

Der Mann schien mit dem Putzen seiner Heckklappe fertig zu sein. Aber da er sich gerade zufrieden aufrichten wollte, entdeckte er ein anderes Etwas, das dem ersten glich. Wieder steckte er seinen Zeigefinger in seinen Mund. Wieder betupfte er das Etwas mit seiner Spucke. Er hielt prüfend inne. Seine Spucke machte auf dem Lack einen eigenen Fleck. Der Mann sah es. Einen Fleck mit Rand. Das war gar nicht gut, das war überhaupt nicht gut für den Lack. Er richtet sich auf, steckte seine Hände in die Hosentaschen und reckte das Kinn vor, gen Himmel. So, nach oben blickend und den Kopf etwas in den Nacken gelegt, konnte er besser in seinen Hosentaschen suchen. Er suchte nach einem Taschentuch. Er hatte keines bei sich. Wieso hatte er keines bei sich? Er hatte keines mehr bei sich, seitdem er bei seiner Mutter ausgezogen war.

Er prüfte wieder den Lack in Schräglage und nahm den Zipfel seiner Krawatte, um den Spuckefleck samt Rand von seinem Auto zu entfernen. Mit vorgewölbtem Fischmaul hauchte er auf das lackierte Hinterteil und polierte dann rasch und tief gebückt nach. Auffallend tief gebückt. Das lag an der Länge seiner Krawatte, die ihn dazu zwang, seiner Hand und dem polierenden Krawattenzipfel mit vorgestrecktem Kinn folgen zu müssen. Er hatte seinen Kopf an der Leine, die eine Krawatte war, und diese Krawatte machte das Etwas weg. Er richtete sich auf und strahlte.

Auch ich war weitergekommen in meinen Überlegungen. Anna Freud starb sechsundachtzigjährig im Oktober 1982, ohne über ihre Lebensbeziehung mit Dorothy Tiffany-Burlingham je eindeutig Auskunft gegeben zu haben, was nicht unbedingt dafür sprechen musste, dass es keine lesbische Beziehung war. Ihn in seiner Parklücke hatte ich beim Denken nicht vergessen. Er mich auch nicht. Er sah auf meinen eingebeulten Wagen, schlank geworden in Jahren wachsender Parkplatznot. Ich sah, dass er telefonierte, den Blick gen Horizont gerichtet, wie bei der Befriedigung eines nicht öffentlichen Bedürfnisses.

Da kam sie schon in ihrem Wagen, für die er den Parkplatz freigehalten hatte. Er rangierte sich heraus. Es dauerte, trotz Servolenkung. Schnell fuhr er davon. Ich wartete, bis sie es aufgegeben hatte, rückwärts einzuparken. Vorwärts ging es schon gar nicht. Langsam rollte sie weiter. Frauen müssen rückwärts Walzer und Foxtrott tanzen. Wieso sollten sie da nicht rückwärts einparken können? Ich nahm Maß und war drin.

Hinweise:Es soll inzwischen Menschen geben, die in ihrem Auto sitzen, um den Parkplatz zu genießenFrauen müssen rückwärts Foxtrott tanzen. Wieso sollten sie da nicht rückwärts einparken können?