Grabenkrieg der Generäle

aus MoskauKLAUS-HELGE DONATH

Russland steckt in einem Zweifrontenkrieg. Im Kaukasus verteidigt die Armee unter großen Opfern den zurückeroberten Landstrich gegen die Unberechenbarkeit tschetschenischer Partisanen. Die Hauptfrontlinie aber verläuft im Herzen Moskaus, mitten durch die Dienstgebäude von Generalstab und Verteidigungsministerium. Generäle und Adjutanten haben sich in ihren Büros verbarrikadiert. Korridore werden erst betreten, wenn Aufklärer reine Luft melden. Wo man sich früher zum Feierabend mit hundert Gramm Wodka zuprostete, herrscht heute Totenstille. Ein zehrender Grabenkrieg, in dem die Intrige zur wichtigsten Waffe wurde und der bessere Draht zum Oberkommandierenden der Streitkräfte, Präsident Wladimir Putin, über den Endsieg entscheidet.

Seit fast zwei Jahren wütet der Stellungskrieg zwischen Verteidigungsminister Igor Sergejew und dem Chef des Generalstabs, Anatolij Kwaschnin, schon. Streitpunkt: Generalleutnant Kwaschnin, genannt: der Terminator, will so schnell wie möglich das strategische Nukleararsenal des Landes abbauen. Was an strategischen und ballistischen Raketensystemen übrig bleibt, soll der Luftwaffe und anderen Waffengattungen zugeschlagen und die Einsparungen zum Ausbau der Landstreitkräfte verwendet werden.

Die „raketschikij“, bisher Hätschelkind der Streitkräfte, würden ihre Selbständigkeit verlieren. Gute Gründe sprechen zunächst für das Konzept des Generalstabs. Ohnehin zeichnet sich die Tendenz ab, dass es Russland zunehmend schwerer fallen wird, die Einsatzbereitschaft der strategischen Raketen zu sichern. Die Aussicht, das militärische Gleichgewicht mit den USA langfristig aufrechtzuerhalten, übersteigt Moskaus finanzielle Möglichkeiten. Da ein nuklearer Krieg mit den USA unmöglich sei, so das Argument Kwaschnins, mache es auch keinen Sinn, der strategischen Balance hinterherzuhecheln. Auf ein Siebtel der bisherigen Stärke will er die strategischen Waffen reduzieren. Einseitig – und auf ein Niveau, das sogar die Vorgaben des noch nicht unterzeichneten Start-III-Vertrages unterschreitet. Die Einsicht erstaunt und macht stutzig.

Profiliert sich Russlands verkrusteter Generalstab als Vordenker? Verabschiedet er sich gar von der Parität mit den USA, die bisher den Psychohaushalt der Militärs vor Erschütterungen bewahrte? Gehört das Blockdenken – wir gegen die Nato – der Vergangenheit an? Ja, wagt sich Kremlchef Wladimir Putin nach zehn Jahren Gerede an die Mammutaufgabe einer Armeereform heran?

Putin, der Zauderer

Marschall Igor Sergejew, dessen Tage als Verteidigungsminister gezählt sind, konnte die Demontage der Raketentruppen noch mal vereiteln. Bis Ende 2001 wird zunächst nur eine Division aufgelöst. Sergejew stammt selbst aus den Reihen der strategischen Waffengattungen, die den Kollegen der konventionellen Einheiten schon immer herablassend begegneten. Selbstverständlich kann die Elite gewichtige Motive für ihren Erhalt ins Feld führen.

Das Nukleararsenal sichert Russland einen Platz unter den Großmächten und bringt neben politischen auch wirtschaftliche Vorteile mit sich. Speckt Moskau ab, verlöre es nicht nur die Fähigkeit zu einem adäquaten nuklearen Gegenschlag, die Verwundbarkeit würde vielmehr die Gefahr eines atomaren Präventivschlages erhöhen. Die „raketschikij“ bauen daher insgeheim auf die Unterstützung der Amerikaner, die an einem solchen Szenario kein Interesse haben dürften.

Und Präsident Wladimir Putin? Der Kremlimperator verwandelt sich zunehmend in einen Kunktator. Er zögert und zaudert, bevor etwas unternommen wird. Das Desaster des Atom-U Boots Kursk in der Barentssee zeigte das deutlich. Putin will einen offenen Konflikt vermeiden, da Armee und Sicherheitsstrukturen noch immer die stärksten Stützen seiner Macht darstellen. Aus seiner Sympathie für Anatoli Kwaschnin macht er indes kein Hehl. Zumal der General seinen Vorstoß plausibel begründen konnte: Vor dem Hintergrund wachsender lokaler und regionaler Konfliktherde – nicht nur in Russland, wohlgemerkt – braucht Moskau schlagkräftigere konventionelle Streitkräfte.

Lange wurde der Generalstabschef als Nachfolger Igor Sergejews auf dem Posten des Verteidigungsministers gehandelt. Schließlich war es Kwaschnin, der den Krieg in Tschetschenien führte und damit Putins Wahl zum Präsidenten sicherte. Es war auch der ambitionierte Haudegen, der mit dem Husarenstückchen von Priština im letzten Jahr der Nato im Kosovo Sand ins Getriebe streute und eine beunruhigende Entwicklung einleitete. Seither glauben viele Militärs, sie seien auch für Außenpolitik zuständig. Ermuntert vom ehemaligen Geheimdienstchef Putin, der nicht müde wurde, den Großmachtanspruch zu beschwören. Kwaschnin wäre für dieses Vorhaben besser geeignet gewesen als Sergejew, der trotz aller rasselnden Rhetorik vorsichtiger ist und auf Ausgleich setzt.

Putin hat den Dualismus in der militärischen Führungsspitze, den inzwischen viele Generäle beklagen, noch gefördert. Aus Dank für den Sieg in Tschetschenien erhielt der Generalstabschef das Privileg eines direkten Zugangs zum Präsidenten. Außerdem wurde er mit einem Sitz im russischen Sicherheitsrat belohnt. Zum ersten Mal gehören damit zwei Mililtärs dem Gremium an. Das war eine schallende Ohrfeige für Sergejew.

Fragwürdige Sparmodelle

Anatoli Kwaschnin ist unter seinesgleichen nicht beliebt. Ihm eilt der Ruf voraus, weder Vaterland noch Armee zu kennen. Karriere und persönlicher Vorteil seien seine Götter. Intrige und Antichambrieren beherrscht er aus dem Effeff. Ehemalige Untergebene beschreiben ihn als einen hochnäsigen Komisskopp, der schon in der proletarischen Sowjetarmee wegen seiner vermeintlichen Abstammung von einem altrussischen Adelsgeschlecht einen Führungsanspruch ableitete. Einfache Soldaten haben von ihm denn auch kein Pardon zu erwarten. Als Divisionskommandeur in Mittelasien zwang er einen niederen Dienstgrad halbnackt mit herunterhängender Hose vor der Truppe zu exerzieren. Dessen Vergehen: Statt der üblichen Fußlappen trug er richtige Strümpfe.

Nicht zu Unrecht fragen Miltärbeobachter, ob Kwaschnin tatsächlich der richtige Mann sei, die Armee zu reformieren. Nach internen Berechnungen der Streitkräfte entfallen 18 Prozent des gesamten Militärhaushalts auf die Unterhaltung der strategischen Einheiten. Ein Großteil des eingesparten Geldes müsste unterdessen darauf verwendet werden, die entlassenen „raketschikij“ mit Wohnraum, neuen Arbeitsplätzen und Sozialleistungen zu versehen. Was übrig bliebe, reicht nicht, um die konventionellen Streitkräfte, vor allem die Infantrie, aus der Misere zu ziehen. Das sieht Kwaschins Plan indes vor, mit dem er bei Staatschef zunächst auch Gehör fand.

Der Vorsitzende des Verteidigungsausschusses der Duma, Alexej Arbatow, schlägt vor, die strategischen Gattungen beizubehalten, den Personalbestand der Armee von über 1,2 Millionen Angehörigen indes auf 700.000 oder 800.000 zu verringern. Angeblich soll sich der Sicherheitsrat darauf auch geeinigt haben. Doch was heißt das schon? General Kwaschnin wird nicht locker lassen. In seine Vorstellungswelt passt keine russische Armee, die weniger als zwei Millionen Wehrdienstleistende beherbergt. Billiges Kanonenfutter, für deren Opfer die Generalität vor der Gesellschaft keine Rechenschaft ablegen muss. Auch Kwaschnins zweiter Tschetschenienfeldzug bestätigte das. Sollte es da ein Zufall sein, dass der vom Sicherheitsrat gebilligte Entwurf nicht mal als Fernziel den Aufbau einer Berufsarmee erwähnt?

Die meisten Experten sind sich einig: Eine durchgreifende Reform findet nicht statt. Grund: Weder Militärs, Regierung noch Präsident wüssten, wie mit Armee und Rüstungskomplex unter veränderten wirtschaftlichen Bedingungen umzugehen sei, meint Wehrexperte Witali Schykow. Eine beunruhigende Diagnose. Eine schwache Armee blockiert nicht nur die gesellschaftliche Entwicklung, sie gefährdet auch den innerer Frieden. Fehlt Moskaus starkem Mann die Kraft, dieser trägen Masse eine Richtung zu geben? Dann wäre es an der Zeit, einen zivilen Verteidigungsminister zu ernennen. Militärs neigen nun mal nicht dazu, sich selbst zu reformieren.