Multiple Autorenschaften

■ Begriffe, die heikle Gräben schaffen: Theoretiker und Praktiker auf der Fachtagung „Weltsicht“ über Behindertenkunst

Ghettos helfen wenig. Und die Kunst geistig Behinderter „Outsiderkunst“ oder „Art brut“ zu nennen, hilft der Sensibilität auch nicht sonderlich auf. Auch nicht die Tatsache, dass sich die als „normal“ Definierten über die Behinderten mehr Gedanken machen als umgekehrt. Und doch findet – noch bis morgen – auf der Fachtagung Weltsichten genau dies statt: Europäische Wissenschaftler, Künstler und Praktiker haben sich eingefunden, um, so das eigene Credo, „erstmals theoretische Ansätze und praktische Erfahrungen zusammenzubringen“.

Um das „unbefugte“ Eindringen in die Intimspähre Behinderter geht es seit gestern in Vorträgen und Diskussionen, auch um die potenzielle Missachtung der Persönlichkeitsrechte der Betroffenen, deren Zurschaustellung leicht einen heiklen Voyeurismus der „Normalen“ bedienen kann.

Der Künstler und Kunstsammler Arnulf Rainer erörterte zum Beispiel mit Kunstwissenschaftlern und Museumsleitern den Stellenwert der Kunst Behinderter; heute präsentieren Christine und Irene Hohenbüchler ihr auf der documenta X vorgestelltes Projekt „Multiple Autorenschaft“, das in Zusammenarbeit mit der Kunstwerkstatt Lienz – einer Gruppe geistig behinderter Künstler – entstand.

Und wie soll man, darf man überhaupt die Qualität von Outsiderkunst definieren, hat man das Recht, sie vom regulären Kunstbetrieb abzugrenzen? Wird sie nicht gerade dadurch entwertet und neu zur Schau gestellt? Susanne Zander, Initiatorin des Themenschwerpunkts „Art Brut“ auf der Kunst-Köln 2000, einer neuen Messe für Kunst nach 1960 mit dem Themenschwerpunkt „Art Brut“, diskutiert dies heute, und auch der Frage nach Möglichkeiten einer Eingliederung von Outsiderkunst in den Kunstmarkt.

Ein ganz eigenes, weil mit Facetten eigenen Seins konfrontierendes Unbehagen erzeugen die Bühnenkünste Behinderter, deren Zurschaustellung aber vermutlich eher den „Normalen“ Unbehagen bereitet als den Akteuren selbst. Denn oft ist Theaterspielen für sie die einzige Möglichkeit, mit einem größeren Publikum zu kommunizieren, und oft präsentiert sich Freude und Schmerz unverstellter – aber nicht Mitleid heischend, und hier beginnt die Gratwanderung –, als den Zuschauer lieb ist. Oder benutzen Regisseure und Intendanten die Behinderten letztlich nur? Weiß ein geistig behinderter Akteur, wen oder was er auf der Bühne darstellt und wie er wirkt? Oder ist er letztlich nur Schaustück, das der Beruhigung, auch latenter Gutmensch-Pflichterfüllung der „anderen“ dient?

Kontroverse Fragen, die die Hamburger Regisseurin Barbara Neureiter heute mit Journalisten diskutiert und die, wenn es einigermaßen ehrlich zugeht, wenigstens in Ansätzen erahnen lassen werden, wie schwierig die Begriffsfindung bei diesem Thema ist, weil die Definition als „noch nicht“ oder „schon“ behindert Gräben aufreißt und völlig außer Acht lässt, dass – in seinen engmaschigen Urteilen über Mitmenschen und Umgebung – jeder ziemlich behindert ist...

Petra Schellen