„Ich will Normalzustand“

Zehn Jahre Bauen nach dem Fall der Mauer: Senatsbaudirektor Hans Stimmann zieht Bilanz. „Die gute alte Zeit“ großer Investoren und öffentlicher Bauten ist vorbei. Am Alex geht es 2002 los

taz: Herr Stimmann, in den 10 Jahren seit der Wiedervereinigung hat sich Berlin baulich stark verändert. Sie haben als Senatsbaudirektor und Stadtentwicklungs-Staatssekretär diesen Prozess massiv beeinflusst und sich zugleich den Ruf des bösen Buben der Architektur eingehandelt, der Gestaltungsvorgaben aufstellt, Bauherren und Architekten gängelt. Sind Sie nicht enttäuscht, dass es heute die Masse an Themen, Wettbewerben oder den Architekturstreit nicht mehr gibt?

Hans Stimmann: Nein. Ich habe das gut verarbeitet, und mit dem Planwerk Innenstadt haben wir neue Themen auf den Tisch gelegt. Aus heutiger Sicht langweilt mich die Form der Architekturdebatte mit Faschismusvorwürfen et cetera eher. Das waren teilweise abstruse Diskussionen.

Außerhalb der Stadt genießt die neue Berliner Architektur einen weitgehend schlechten Ruf. Ist das nicht auch die Folge Ihrer städtebaulichen Vorgaben?

Sie stellen permanent Behauptungen auf, die ich nicht teile. Berlin ist ein Mekka für Architekten. Die Debatte der ersten fünf Jahre war eine städtebauliche Debatte, die jedoch als Architektur-Debatte missverstanden wurde. Mir ging es um den Bau von Häusern in einem städtebaulichen Kontext. Das, was ständig kritisiert wird als mäßige, schlechte Architektur, wurde von privaten Bauherren produziert. Wir als Land Berlin dagegen haben in diesen Jahren das beste Schulbauprogramm seit den 20er-Jahren abgeliefert. Das wird vergessen, zumal sich die Wahrnehmung der Neubauten auf die Friedrichstadt und das Regierungsviertel konzentriert.

Aber sind nicht die Bauten in der neuen Mitte zu dem Aushängeschild Berlins stilisiert worden?

Ich habe mich nie ausschließlich auf die Mitte der Stadt fokussiert. In den letzten 10 Jahren sind, über ganz Berlin verteilt, 50 neue Schulen, 80.000 Wohnungen, Parkanlagen, Krankenhäuser, Universitätsbauten entstanden – fast ausnahmslos ohne Rezeption. Die Investoren haben den Potsdamer Platz zum Nabel der Welt erklärt, und die Medien sind dem gefolgt.

Die Politiker auch. Die haben von Anfang an auf die Mitte geblickt.

Erinnern Sie sich an die große Ausstellung 1995 über Wohnungsbau auf der Straße Unter den Linden? Gemessen an der Tatsache, dass der damalige Bausenator Wolfgang Nagel dort 1.300 Meter zur Geschichte und Zukunft des Wohnungsbaus arrangiert hat, war die Resonanz gering.

Als Sie Ihr Amt als Senatsbaudirektor 1991 antraten, war der Wettbewerb für den Potsdamer Platz entschieden. Es folgten die großen Wettbewerbe für den Alexanderplatz, die Friedrichstraße, die Bahnhöfe, den Pariser Platz, die Vorstädte, die City-West. Und damals gab es die Kritik, dass alles gleichzeitig und zu schnell geplant wurde.

Am Wettbewerb Potsdamer Platz war ich als Preisrichter beteiligt. Die Weisheiten, „Architektur und Stadt brauchen Zeit sich zu entwickeln“ oder „Können wir nicht Projekte wie den Potsdamer Platz, Alexanderplatz, den Lehrter Bahnhof nacheinander anschieben?“ greifen nicht. Das wäre Planwirtschaft. Wir hätten höchstens den Flächennutzungsplan anders gestalten können, aber man kann im Kapitalismus kaum steuern, wo was zuerst räumlich entsteht.

Warum wurden keine Bremsen bei der Stadtentwicklung eingebaut?

Wie soll das aussehen. Das hebt immer ab auf Schneller-Reagieren, Umplanen, hebt immer ab auf Möglichkeiten, die das Baugesetzbuch nicht hat.

Dann müssen Sie sich aber die Frage gefallen lassen: Gibt es dann noch eine Berechtigung für Pläne wie das Planwerk Innenstadt – die Ausweisung von Flächen für 50.000 Wohnungen – mit dem Anspruch „Wir zeichnen hier eine Entwicklung der nächsten dreißig Jahre vor“. Vor dem Hintergrund der Abwanderungswelle ins Umland und 90.000 leer stehender Wohnungen wird doch die falsche Entwicklung von vor 1995 fortgeschrieben?

Nein, das tut es nicht. Es geht eben nicht mehr um öffentlich geförderte Bauprogramme wie bis 1995. Senator Strieder hat zugesagt, Bauplätze in Berlin für 50.000 frei finanzierte Wohnungen bereitzustellen. Das Planwerk hat übrigens Platz für gut 20.000 Wohneinheiten. Wir schaffen Platz. Ob da 50.000 oder nur 5.000 Wohnungen je gebaut werden, liegt nur sehr begrenzt in unserer Hand. Alles, was wir dafür tun können, ist, ein Baulandkataster zu erarbeiten und Informationen für das Handeln der privaten Akteure bereitzustellen. Wir haben ein Programm zur Eigentums- und Genossenschaftsbildung. Es gibt, erstmals seit 1926, kein nennenswertes staatliches Wohnungsbauprogramm mehr. Wir sorgen für Planungs- und Baurecht, für mehr nicht. Wir vergeben kaum noch Fördermittel. Das Land hat damit auch den größten Teil seines Einflusses auf die Architektur verloren. Wir definieren den städtebaulichen Rahmen.

Das bedeutet die Verabschiedung vom Spielfeld des öffentlichen Bauherrn.

Im Wohnungsbau ja. Wir haben endlich den Normalzustand.

Und was ist der Normalzustand?

Die Bewohner übernehmen die Verantwortung für das Wohnen und lassen sich nicht mehr vom Staat bevormunden. Nur die sozial Schwachen erhalten Unterstützung. Der Bürger baut, mietet oder kauft Wohnungen oder nicht, wir stellen Bauplätze zur Verfügung. Das ist der Normalzustand.

Gerade private Grundstücke, für die seit Jahren Pläne vorliegen, liegen in Berlin brach. Am Alexanderplatz bauen die Investoren nicht, weil keine Nachfrage existiert. 1,4 Millionen Quadratmeter Büroflächen stehen leer. Am Lehrter Bahnhof steht durch den Rückzug der Bahn AG ein ganzes Areal vor einer ungewissen Zukunft. Und auf dem Gelände am Stadion der Weltjugend wird Golf statt Wohnungsbau gespielt. Welche Möglichkeiten hat das Land, die Planungen zu revidieren, die auf mittlere Sicht nicht realisierbar sind?

Sollen wir den verabschiedeten Bebauungsplan am Alex aufheben, städtebauliche Verträge kündigen, nur weil das heute überzogen erscheint? Ich rechne dort mit dem Baubeginn in 2002. Es gibt Planungsrecht,Verträge und Eigentümer, die das Gegenteil von dem sagen, was Sie behaupten.

Und doch gibt es keine 12 Hochäuser am Alexanderplatz.

Der Bebauungsplan legt nicht fest, wann diese gebaut werden sollen. Ich denke nicht darüber nach, diesen für obsolet zu erklären. Und die Eigentümer, die dort ein Grundstück besitzen sowie das Recht dort ein 150 Meter hohes Hochhaus bauen zu können, haben natürlich etwas in der Hand, das sie nicht preisgeben. Der Alexanderplatz war in der Perspektive von 30 Jahren angelegt. Wenn Sie glauben, wir hätten den Alexanderplatz aufgegeben, ist das falsch. Im Gegenteil. Der Alex ist das Flaggschiff und Schwerpunkt unserer innerstädtischen Baupolitik. Das Gebiet ist Kerngebiet und wichtig für die innere Wiedervereinigung unserer Stadt. Den wollen wir nicht liegen lassen. Die Brache an der Chausseestraße dagegen ist ein Skandal. Es ist schon ein beträchtliches Versäumnis gewesen, dieses baureife Wohnungsbau-Projekt jahrelang liegen zu lassen. Da sind wir nun dabei, das auf den Weg zu bringen.

Was wird sich ändern?

Der Senat will, dass in der Innenstadt Wohnungen gebaut werden: mit möglichst vielen privaten Bauherren, nicht mit einem Großinvestor, dazu in unterschiedlichen Typologien, Architekturen.

Und der Finanzsenator, der die Grundstücke teuer verkaufen will, spielt da mit?

Der spielt grundsätzlich mit. Das ist ausdrücklich in der Koalitionsvereinbarung fixiert: Der Senat unterstützt mit seiner Bodenpolitik die Ziele der Innenstadtentwicklung und nicht nur die der Vermögensaktivierung.

Mit dem Planwerk Innenstadt propagieren Sie die kleinteilige Bürgerstadt und den Urbaniten als Nutzer. Besteht nicht die Gefahr, dass die neuen Architekturen nur von einer bestimmten Klientel sowohl gebaut als auch genutzt werden können? Und welche Instrumente hat der Senatsbaudirektor, um die Bauherren dazu zu bewegen, gut und zugleich bezahlbar zu bauen?

Instrumente habe ich keine. Ich kann nur versuchen, Einfluss zu nehmen, indem ich bestimmte Fragestellungen thematisiere: zum Beispiel im Rahmen der „Architekturgespräche“. Aber die Eingriffsmöglichkeit über die klassischen Instrumente der staatlichen Steuerung sind wie gesagt in den letzten Jahren immer geringer geworden.

Wenn das so ist, warum braucht Berlin noch einen Senatsbaudirektor?

Erstens gibt auch in Zukunft öffentliche Bauaufgaben und zweitens ist der nötig, weil die anoymen Immobilienmanager dazu gebracht werden müssen, gute Architektur zu bauen. Die gute alte Zeit Anfang der 90er-Jahre, wo qualitätsvoll geplant und gebaut wurde, ist vorbei. Im Unterschied zum Potsdamer Platz gibt es heute viel weniger persönlich engagierte Investoren. Da gab es Edzard Reuter, Oga Sony, Hines, Jagdfeld, Roland Ernst. Das waren Partner, die uns zuerst das Leben schwer gemacht haben, aber zu Partnern geworden sind. Die großen Konzerne haben sich heute verflüchtigt oder sie trennen sich von ihren Immobilien. Die neuen Manager der Immobilienabteilungen haben nur noch in Ausnahmefällen die persönliche Obsession für Architekturqualität.

Ihre Planungen und Überlegungen richten sich eigentlich nur an ein bestimmtes Segment der Bevölkerung, sagen wir die Mittelschicht und die Besserverdienenden. Es gibt dagegen in Berlin große Probleme, über die kaum geredet wird: die Plattenbausiedlungen. Aufgrund der Segregation in Ostdeutschland sollen voraussichtlich 500.000 Wohnungen in Plattenbauten abgerissen werden. Wie will Berlin verhindern, dass hier Gleiches geschieht?

Wir haben Anfang der 90er-Jahre einen Grundsatzbeschluss formuliert, der besagt, dass wir nichts abreißen, sondern die Plattensiedlungen sanieren wollen. Ich finde aber auch, dass gerade die architektonische Qualifizierung der Plattenbausiedlungen durch die vielen Ergänzungen nicht das Niveau hat, das man hätte erreichen können. Am Leninplatz oder etwa an der Karl-Marx-Allee ist das schon mal ganz gut gelungen. Aber es gibt auch Beispiele, die grauenhaft danebengegangen sind. Statt die Plattenbausiedlungen einmal nur unter dem Gesichtspunkt der Architektur zu betrachten, wurden die modernen Haustypen bis zur Unkenntlichkeit verändert. Und am Ende kamen oft Farbdesigner, die versucht haben, die Großsiedlung Softeis-mäßig anzumalen, obwohl Berlin und seine Großsiedlungen alles andere als Softeis-mäßig sind.

INTERVIEW: OLIVER HAMM/
ROLF LAUTENSCHLÄGER