27 Stunden sind ein Tag

Die Zeitverschiebung führt zum Sendemarathon: Bei Olympia 2000 feiern sich ARD und ZDF schon mal vorab als Goldmedaillengewinner auf der Übertragungslangstrecke. In den USA wird der Live-Sport ins Kabel-TV verbannt

von THORSTEN PILZ

Es muss furchtbar gewesen sein für ARD und ZDF bei den letzten Olympischen Spielen in Atlanta. Sechs lange Tage hatten die TV-Verantwortlichen die Fernsehzuschauer in Deutschland zu vertrösten, ehe sie die erste Goldmedaille vermelden konnten.

So etwas wollte man wohl nicht noch einmal erleben – und baute vor. Wenn die Sportler schon nicht für Schlagzeilen sorgen, machen wir es eben selbst, dachte man sich wohl beim für die ARD-Olympia-Berichterstattung federführenden NDR und hängte sich bereits vor Beginn der ersten Wettkämpfe in Sydney das begehrteste Edelmetall um den Hals: „Nimmt man Fernsehen und Hörfunk zusammen, dann schafft der öffentlich-rechtliche Rundfunk in Deutschland den Weltrekord. In keinem anderen Land der Welt wird mehr von den Spielen zu hören und zu sehen sein als in Deutschland“, so NDR-Fernsehdirektor Jürgen Kellermeier.

Physikalisches Dilemma

Noch ist unklar, ob man das nun als Drohung auffassen soll oder nicht. Denn ARD und ZDF stecken in einem Dilemma, welches man auch als physikalisches verstehen kann: Die Erde ist eben keine Scheibe. Wenn also in Sydney die Kanutin Birgit Fischer um ihre nächste Goldmedaille kämpft, liegen wir entweder im Bett oder sitzen im Büro. Neun Stunden sind uns die Athleten in Australien voraus, selbst ein Halbtagsjob hilft kaum weiter: Nach 14 Uhr unserer Zeit fallen in Sydney keine Entscheidungen mehr. ARD und ZDF senden daher jeden Abend ab 23 Uhr – live bis zur letzten Entscheidung.

Ein löblicher Entschluss. Und ein teurer Spaß. Denn für einige hunderttausend nächtliche Couch-Potatoes (ARD und ZDF rechnen freilich mit Millionen), die sich konsequent dem olympischen TV-Motto „Dabeisein ist alles“ verpflichtet haben, blätterten die beiden Öffentlich-Rechtlichen für die TV-Rechte insgesamt fast 120 Millionen Mark hin. Dazu kommen noch Produktionskosten in Höhe von mindestens 43 Millionen Mark, rund 600 Mitarbeiter von ARD und ZDF berichten von den Spielen – auch das ein Rekord. Aber wozu der Aufwand, wenn niemand hinsieht? Also setzt man sämtliche physikalischen Gesetze außer Kraft und lässt den olympischen Tag 27 Stunden dauern. Neben den Live-Übertragungen (meist bis 15 Uhr) gibt es dann eine Tageszusammenfassung am Nachmittag (15.15 – 17 Uhr) und eine Tageszusammenfassung am Abend (ARD: 20.15 – 21.45 Uhr; ZDF 19.15 – 21 Uhr). Dazu kommen noch sechs Stunden Live-Übertragungen auf 3sat.

So viel Sendezeit will gefüllt sein. Und sie wird gefüllt: Das Erste hat den Olympia-Oldie Hans-Joachim Fuchsberger (1972 bei den Spielen in München war Blacky Stadionsprecher) ausgegraben, das ZDF hat sich (Hapag Lloyd sei Dank) auf der „MS Europa“ eingenistet und verspricht „emotionsgeladene Unterhaltung“ (ZDF-Pressetext), im Klartext: Michael Steinbrecher.

Pomadige Fragen

Leider macht der sensible Lockenstab nicht nur einen Zwischenstopp auf dem Traumschiff, sondern quält Sportler und Zuschauer zwei Wochen lang mit penetranten und pomadigen Fragen. Sport als Show voller Emotionen?

Anschauungsunterricht bekäme Herr Steinbrecher in diesem Falle bei seinen amerikanischen Kollegen von NBC. Der Sender, der die Olympische Spiele zwischen 2000 und 2008 für umgerechnet sieben Milliarden Mark einkaufte, weiß, wie man seine Zuschauer einseift. Aus jedem atemberaubenden Sieg, jeder dramatischen Niederlage wird eine Soap gemacht.

NBC überlässt dabei nichts dem Zufall. Also ist auch keine Entscheidung live zu sehen, alle Wettbewerbe werden aufgezeichnet später in leicht verdaulichen Häppchen zur Abendzeit serviert. So ist bereits eine Mini-Serie über das Schicksal von US-Topstar Marian Jones in Arbeit, wobei völlig gleich ist, ob sie nun tatsächlich die fünf anvisierten Goldmedaillen gewinnt oder nicht – verkaufen lässt sich beides bestens. Und obwohl die Übertragungen im US-Fernsehen mit der Meisterschaft im American Football sowie der Endphase des Baseball-Championats kollidieren, rechnet man mit guten Quoten. Denn nach Ansicht von NBC-Sportchef Dick Ebersol spricht Sydney andere Zuschauersegmente an: Während das TV-Publikum der traditionellen US-Mannschaftssportarten zu etwa 75 Prozent aus Männern bestehe, setze es sich bei Olympischen Spielen zu 48 Prozent aus Frauen und zu 16 Prozent aus Kindern zusammen, bemüht Ebersol die Statistik.

Emotionsfernsehen

Also wird noch weiter an der Emotionalisierungsschraube gedreht, schließlich liegt der weibliche Zuschaueranteil bei den Daily Soaps auch deutlich über dem der Männer. Wirklich sportinteressierte Geister müssen dann schon auf die NBC-Kabelkanäle umschalten.

Komplett und rund um die Uhr informiert wird in den USA sowieso nur derjenige, der sich per Mouse ins Internet klickt.

In Deutschland steht uns diese Entwicklung zumindest bis 2008 noch nicht ins Haus. Bis dahin werden die Olympischen Spiele, anders als die Fußball-Weltmeisterschaften, noch öffentlich-rechtlich betreut. Was natürlich nicht heißt, dass uns gefühlige Homestories von Siegern und Verlierern erspart bleiben. Deutschen selbstverständlich. Wer interessiert sich schon für die 100-Meter-Läuferin aus Nordkorea, die im Vorlauf als Letzte durchs Ziel kommt.

Warten wir also ab, was Steinbrecher und Co. dem Abendpublikum vorsetzen. Unbehelligt davon bleibt man nur, wenn man sich nachts vor den Fernseher hängt. Dann geht es nämlich um den Sport. Und der Resttag bleibt zur Regeneration.