Bodenständiger Albatros

Australien hofft auf sehr viele Goldmedaillen bei den Olympischen Spielen. Aber von einem achtzehnjährigen Mann erwartet das Land allein mindestens drei Siege. Wahnsinn? Oder wird Ian Thorpe zum Star von Sydney?

von THOMAS WINKLER

Der Mann hat unübersehbar sehr große Füße. Diese Füße mit Schuhgröße 52 haben ihn schnell und erfolgreich, sie haben ihn reich und berühmt gemacht. Auf ihnen ruhen die Hoffnungen einer ganzen Nation. Aber diese Füße haben auch Spekulationen hervorgerufen, böse Gerüchte und üble Nachrede.

Ian Thorpe gehören diese Füße, dem noch nicht einmal achtzehnjährigen Wunderkind aus der Olympiastadt Sydney. Sports Illustrated ernannte ihn zum „Phänomen“, und Rowdy Gaines, 1984 Schwimmolympiasieger, meinte, er hätte nie „ein größeres Talent gesehen“. Der Gelobte selbst kontert jede Verehrungsgeste freundlich und vage zugleich, stets liefert er blutleere Zitate ab und somit keinerlei Stoff für die Presse. Vielleicht hat genau das ihn zum Helden australischer Teenies und zum Liebling ihrer Großmütter gleichermaßen werden lassen.

Seine Landsleute nennen ihn „Thorpedo“. Sein Trainer, ein als verkniffen verschrieener Mann, kürte ihn bereits zum „Schwimmer des Jahrhunderts“ – wo das neue Jahrhundert kaum begonnen und der junge Mann nicht einmal an Olympia teilgenommen hat.

Das wird sich nun bald ändern. Niemand zweifelt daran, dass Thorpe mindestens drei Goldmedaillen gewinnen wird. Zumal er schon 1998 als Fünfzehnjähriger der jüngste Schwimmweltmeister aller Zeiten wurde. Während der Panpazifischen Spiele Ende 1999 verbesserte er sogar binner dreier Tage vier Weltrekorde. Er stellt Rekorde nicht nur auf, er pulverisiert die alten Bestzeiten: Den 400 Meter Freistil-Weltrekord seines Landsmanns Kieren Perkins unterbot er gleich um 1,97 Sekunden, die deutlichste Verbesserung über diese Strecke seit 1980. Was erwartet uns da erst, wenn Thorpe erst mal 20 wird und die traditionell besten Jahre für einen Schwimmer beginnen?

Solche Leistungen rufen erwartbare Reaktionen hervor. Kann das mit rechten Dingen zugehen, dass ein Teenager solche Zeiten schwimmt? Der deutsche Männerbundestrainer Manfred Thiesmann behauptete, es werde allgemein angenommen, Thorpe sei gedopt.

Und kürzlich ließ der deutsche Athletensprecher Chris-Carol Bremer verlauten, dass eine der Nebenwirkungen von Wachstumshormonen übergroße Hände und Füße seien. In Australien brach nach Bekanntwerden dieser Sottisen ein Sturm der Entrüstung los. Bremer ließ aber wissen, den Namen Thorpe ausdrücklich nicht genannt zu haben; als studierter Mediziner wollte er nur auf die Gefahren hinweisen.

Vor wenigen Wochen tauchten neue Vorwürfe auf. Brian Corrigan, ein früherer australischer Teamarzt, behauptete, etwa ein Drittel der australischen Athleten seien gedopt. In manchen Sportarten, so Corrigan, würden gar 99 Prozent der Sportler Dopingmittel einnehmen. Beweise blieb er allerdings schuldig. Kurz zuvor hatte der ehemalige Diskuswerfer Werner Reiterer, selbst Olympiateilnehmer 1988 und 1992, in einem Buch mitgeteilt, er sei beim Doping von australischen Offiziellen unterstützt worden. Für die Schwimmer, so stellte Reiterer leicht neidisch fest, wäre sogar ein spezielles Wachstumshormon entwickelt worden, das drei bis sieben Mal so stark sein soll wie kommerziell hergestelltes. Als das australische NOK eine Untersuchung einleitete, weigerte sich Reiterer allerdings, Namen zu nennen.

Bei ihrem „Thorpedo“, da ist sich die australische Öffentlichkeit sicher, muss alles mit rechten Dingen zugehen. So wird als Kronzeuge Vater Ken Thrope zitiert: „Ich habe schon ziemlich große Hände und ziemlich große Füße, und ihr solltet erst mal seine Mutter sehen.“ Thorpes Armspanne von 1,90 Meter soll größer sein als die von „Albatros“ Michael Groß, pro Armzug wurde bei Thorpe eine Vorwärtsbewegung von 3,10 Meter gemessen. Der Südafrikaner Ryk Neethling fühlte sich, als er einmal Thorpe hinterher schwamm, wie „in einer Waschmaschine“.

Zur Erklärung für Thorpes Leistungsvermögen werden gerne dessen rigoroses Training und sein unglaubliches Wassergefühl angeführt. So soll sich der mittlerweile 1,93 Meter große Thorpe als Jugendlicher beim Cricket, Fußball und auch Australian Rules Football zwar versucht, aber als völliger Bewegungsidiot herausgestellt haben. Im Wasser allerdings, erzählt Thorpe, habe er sich vom ersten Augenblick an wohl gefühlt. So wurde der romantische Mythos geboren, Thorpe sei ein Fisch, den es nur durch eine Laune des Schicksals an Land verschlagen habe.

Gerne erzählt wird auch die tränenreiche Geschichte vom guten Freund, der Gehirntumor und Krebs nur knapp überlebt und Thorpe so den Wert des Lebens gelehrt hätte. Wenn ihm das Training zu viel würde, sagt Thorpe, müsse er nur an seinen tapferen Freund denken. Dann wüsste er wieder, was echtes Leid sei. Und es ist ja wahr: Masochismus ist eine der wichtigsten Eigenschaften für einen Profi in der Ausdauersportart Schwimmen.

Australische Offizielle verweisen auf das Dopingkontrollsystem. So wurde Thorpe von Februar bis einschließlich April diesen Jahres vier Mal im Training kontrolliert. Außerdem sei eine der häufigsten Nebenwirkungen von Wachstumshormonen ein weit vorspringendes Kinn und eine vergrößerte Stirn. Attribute, die an Thorpe nicht festzustellen sind, wie Medienbeobachter versichern.

Sie tun das beflissen, denn Schwimmer sind in Australien Stars. Nicht nur Sportstars wie Cricket- oder Rugbyspieler, sondern Popstars. Und Thorpe ist, als wären alle Backstreet Boys zu einer Person verschmolzen worden.

Kreischende Teenager, haufenweise Fanpages im Internet, Interviews für Jugendzeitschriften über Hobbys (Computerspiele, Wasserski, TV), Lieblings-Essen (Eiscreme), Lieblings-TV-Serie („Friends“) und Lieblingsband („Green Day“) – die ganze Palette jugendlicher Leidenschaften also bedient Thorpe. Höhentrainingslager werden deshalb möglichst auf der anderen Seite des Erdballs veranstaltet, um den Schwimmern eine Auszeit von der australischen Presse zu verschaffen.

Aber nicht nur weibliche Minderjährige sind von Thorpe und seinen Kollegen hingerissen. Schwimmen wird Down under, in einem Land, in dem es sich nur in der Nähe eines Strandes angemessen leben lässt, als Nationalsport angesehen. Wenn am Beginn Olympischer Sommerspiele die Schwimmwettbewerbe stattfinden, geht es für die Gastgeber auch darum, einen nationalen Komplex zu beseitigen. „Die Amerikaner sind arrogant“, sagt Daniel Kowalski, Mitglied der 4-mal-200-Meter-Weltrekordstaffel, „sie stolzieren um den Pool, als ob er ihnen gehören würde, und dabei kauen sie Kaugummi. Wir lieben es, sie zu schlagen.“

Ein erster Angriff auf die Vormachtstellung der USA beim Schwimmen sollte eigentlich bereits 1996 stattfinden. Doch nur zwei Goldmedaillen brachten die Australier aus Atlanta mit nach Hause, die Amis gewannen dreizehn. Bei der WM in Perth war es dann aber schon sieben Mal Gold, und mittlerweile hat man bei den Weltrekorden schon fast gleichgezogen. Man liegt also im Plan.

Vor sechs Jahren, nachdem Sydney vor Peking den Vorzug bekommen hatte, wurden erkleckliche Summen in die australische Sportförderung gesteckt. Die Planungen waren ausdrücklich auf die Spiele im eigenen Land ausgerichtet, und die Erwartungen sind riesig. Längst ist Thorpe Millionär, er wirbt für Autos und Frühstücksflocken, für eine Bank, eine Fluggesellschaft, einen Fernsehsender und die Wasserwerke. Aber darüber hinaus gehende Begehrlichkeiten und Erwartungen kontert Thorpe mit penetranter Bodenständigkeit. „Das Allerwichtigste ist es“, beteuert Thorpe, „nicht abzuheben.“ Denn was so um ihn herum stattfinde, das sei vor allem „ganz schön aufregend“. Ansonsten mache ihm Schwimmen Spaß – und Druck kenne er nicht.

Bis zu fünf Mal Gold könnte Thorpe in Sydney gewinnen, je nachdem, in wie vielen Staffeln er eingesetzt wird. „Wenn ich zwischen zwanzig Weltrekorden und einer olympischen Goldmedaille wählen könnte“, sagt er unlängst, „würde ich die Medaille nehmen.“ Aber eine einzige wird seinen Landsleuten garantiert nicht genügen.

Thorpe scheint das relativ egal zu sein. Er plant bereits für die Zeit nach den Olympischen Spielen. Zwar will er noch weiterschwimmen bis 2008, schließlich wäre er dann immer noch im besten Schwimmeralter. Nach Sydney allerdings möchte er erst einmal an die Uni gehen, um dort Medizin oder Politikwissenschaften zu studieren. Um eine Sondergenehmigung hat er sich bereits bemüht, hat er doch als Vierzehnjähriger die Schule abgebrochen, um sich aufs Schwimmen konzentrieren zu können.

Was immer in Sydney und danach passieren wird, eines immerhin ist sicher. Am 13. Oktober wird Ian Thorpe volljährig. Dann kann er endlich den Mazda fahren, den ihm schon vor Jahren ein Sponsor in die Garage stellte. Ob das Gaspedal eine Sonderanfertigung sein wird, ist nicht bekannt.

THOMAS WINKLER, Jahrgang 1965, hat Schuhgröße 45, schwamm die 100 Meter Brust als Jugendlicher unter 1:20 Minuten und litt später immerhin unter einer eingebildeten Chlorallergie. Er lebt in Oranienburg bei Berlin