Wenn der Barsch zur Bärschin wird

■ Die Weser ist mit Hormonen und Medikamenten belastet / Die Konsequenzen sind ungewiss: Ist alles in Butter, weil ihr Wasser nicht getrunken wird oder drohen „verheerende“ ökologische Folgen?

Was geschah am 5. Mai 1999 in Bad Oeynhausen? Als Mitarbeiter der „Arbeitsgemeinschaft zur Reinhaltung der Weser“ (ARGE Weser) an diesem Tag am Kläranlagenablauf der Kur- und Klinikstadt Wasserproben nahmen, haben sie vermutlich ihren eigenen Augen nicht getraut: Die Messgeräte meldeten unglaubliche 5.098.000 Nanogramm Carbamazepin pro Liter Wasser – der Mittelwert beträgt hier normalerweise 3.400 ng/l (ein Nanogramm = 10-9 Gramm). Wie derartig große „Mengen“ des Anti-Epileptikums, das auch bei Diabetis oder Alkoholentzug verschrieben wird, an diesem Tag in den Wasserkreislauf kamen, ist ungeklärt. Der Harndrang der Patienten - ansonsten durchaus eine Ursache der hohen Carbamazepin-Werte - scheint als alleiniger Grund auszuscheiden.

Fest steht jedoch, dass eine Vielzahl von Arzneimitteln und hormonell wirksamen Stoffen die Weser und ihre Zuflüsse belasten. Das ist das Ergebnis eines Sondermessprogramms, das in den aktuellen „Wesergütebericht“ der ARGE aufgenommen wurde (taz berichtete). Bei Probeentnahmen an der Weser in Hemelingen wurden sämtliche der untersuchten Substanzen aufgespürt – neben dem eingangs erwähnten Medikament auch zahlreiche endokrin wirksame Stoffe und Hormone wie Nonylphenol, Oktylphenol, Östron oder ß-Sitosterol, die als kommunale und industrielle Abwässer in den Fluss gelangen.

Ungewiss ist allerdings, welche Bedeutung diese Stoffe für Mensch und Umwelt haben. Der ARGE Weser zufolge besteht der Verdacht, dass sie das hormonelle Nachrichtensystem von Lebewesen durcheinander bringen, Fortpflanzungs- und Entwicklungsstörungen verursachen und möglicherweise auch für die Zunahme von Hoden- und Brustkrebs beim Menschen verantwortlich sind.

Man wisse noch nicht, welche Konzentrationen für den menschlichen Organismus überhaupt relevant sind, sagt Dr. Ludwig Müller, Referatsleiter im Bremer Gesundheitsressort und Mitglied des Bund-Länder-Ausschusses für Chemikaliensicherheit. Vieles bewege sich noch im Bereich der Spekulation, so der Umweltmediziner. Er berichtet jedoch unter anderem von Befürchtungen, dass die Hormonbelastung für den Rückgang der männlichen Samenkonzentration verantwortlich sein könnte. Diese habe sich im Vergleich zu 1940 halbiert.

Bis vor kurzem habe man noch keinerlei Ahnung gehabt, in welchem Maße die in Verdacht geratenen Stoffe in den Gewässern vorkommen. Hier sollte das Sondermessprogramm der ARGE, bei dem jedoch nur eine kleine Anzahl der im Umlauf befindlichen Substanzen untersucht wurde, erste Orientierung schaffen.

Müller, der unter anderem für den gesundheitlichen Verbraucherschutz zuständig ist, sieht vorerst keine direkten Gefahren für die Bremer Bevölkerung, die ihr Trinkwasser aus Brunnen bezieht. Das Weserwasser werde schließlich nicht zur Wassergewinnung genutzt, daher sei die Problematik nicht so groß. Seine Devise heißt: Abwarten, bis – wie geplant – umfangreichere Untersuchungen durchgeführt worden sind.

Auch auf Seiten der Bremer Kläranlagenbetreiber gibt man sich entspannt. „Wir haben damit gar kein Problem“, sagt Hansewasser-Sprecherin Dora Hartmann. Sie sieht in Hormonen und Arzneimitteln die „Modeschadstoffe“ der 90er Jahre. Die Untersuchungsmethoden seien sehr viel genauer geworden, und nur deswegen seien die Substanzen überhaupt ein Thema. Überdies habe man eine der modernsten Kläranlagen Norddeutschlands.

Tatsächlich sind die in Bremen gemessenen Ablaufwerte im Vergleich zu den anderen Meßpunkten am niedrigsten. Also: Alles nur ein „Wahrnehmungsproblem“, wie die Öffentlichkeitsarbeiterin meint?

Keineswegs, hält Patricia Cameron vom World Wildlife Fund (WWF) dagegen. Im Vergleich zu anderen Chemikalien würden bereits winzige Mengen dieser Substanzen Wirkungen zeigen. In englischen Flüssen sei beispielsweise beobachtet worden, dass bestimmte männliche Fische – wie etwa Barsche und Flundern – durch die Nonylphenolbelastung „verweiblichen“ würden, so die für Chemiepolitik zuständige WWF-Mitarbeiterin. Da die hormonell wirksamen Stoffe die Fortpflanzung stören würden, sind die ökologischen Folgen in Camerons Augen langfristig „ziemlich verheerend“.

Aus diesem Grund sei auch die Argumentation verkehrt, dass die Bremer ja kein Weserwasser trinken würden, schließt sich ihre Kollegin Dr. Sabine Otto an: Die Stoffe würden schließlich auch auf die Lebewesen im Fluß einwirken, nicht nur auf den Menschen. Außerdem: Es wäre ja gerade gut, Wasser aus der Weser zu nutzen, um andere Vorräte zu schonen.

Doch auch wenn er das belastete Wasser nicht trinkt, ist der Mensch aus Sicht des WWF möglicherweise durch die Hormonschadstoffe bedroht – über die Nahrungskette. In den USA habe man Entwicklungsstörungen bei Kindern festgestellt, deren Mütter als Schwangere Fisch mit hormonellen Schadstoffen gegessen hatte.

Camerons Forderung: Die Substanzen dürften nicht mehr in die Umwelt gelangen. Auf Ebene der EU gebe es in dieser Hinsicht bereits gute Ansätze. Das Problem sei erkannt, aber noch nicht gebannt. An der Weser soll nun im Rahmen eines bundesweiten Untersuchungsprogramms auf breiterer Ebene nach Arzneimittelwirkstoffen und Hormonen gefahndet werden. hase