Arbeiter im Bergwerk der Geschichten

Ein Plädoyer für Josef Haslinger aus Anlass seines neuen Romans:„Das Vaterspiel“ breitet die Kampfzone in einer Vor-Houellebecq-Welt aus

von DIRK KNIPPHALS

Erstens ist dies ein Buch über eine Kleinfamilienhölle in Österreich. Zweitens eins über Pickel und Pubertätsnöte. Drittens über Nazigräuel in Litauen. Viertens über den moralischen Niedergang der österreichischen Sozialdemokratie. Fünftens über einen versteckten Altnazi in New York. Der Mix macht’s; mit diesem Spruch werben Privatradios für ihre Programme. Wer ihn auf den gerade erschienenen Roman „Das Vaterspiel“ von Josef Haslinger anwendet, berührt einen heiklen Punkt: Der Mix tendiert hier von seiner Soundfarbe her zutiefst ins Problemhaltige. Von Selbstironie, die mildernd wirken kann, dagegen keine Spur. Die Welt ist, wie sie ist. Hier zeigt sie ihre dunklen Seiten.

Wenn man erklären möchte, warum man das Buch – wie unsereiner – gerne gelesen hat und auch für einen interessanten Roman hält, wird man dabei in irgendeiner Weise also ein Trotzdem zu Hilfe nehmen müssen. Daraus mag einerseits das Problem folgen, in einen eher plädoyerhaften Ton zu verfallen. Andererseits ist die Gefahr, dieser Roman könnte zwischen die Stühle fallen, vielleicht sogar noch größer. Er ist zu wenig reißerisch, um als Thriller durchzugehen, und zu wenig an formaler Geschlossenheit ausgerichtet, um im gehobenen Segment zu landen. Das Bücherregal, in das die, nennen wir sie in einer ersten Annäherung ruhig: politische Unterhaltungsliteratur hierzulande im Buchkaufhaus nahtlos hineinpasst, muss immer noch erst gezimmert werden. Einen wirklich guten Ruf hat sie sich auch heute noch nicht erworben. Und dann stellt sich zudem noch die Frage, ob „Das Vaterspiel“ diese Rubrik nicht schon wieder sprengt.

Die Schockerqualitäten des Vorgängers „Opernball“ hat Josef Haslinger jedenfalls vermieden. Aus gutem Grund. Noch so ein plausibles Setting für mehrere tausend Tote wie einen Gasanschlag auf eben den Wiener Opernball findet sich kaum.

Auf der anderen Seite liegt die Absicht, ein Sprachkunstwerk zu schaffen, erklärtermaßen immer noch nicht in der Absicht dieses Autors. Moment: Sprachkunstwerk? Im Gespräch kann es vorkommen, dass Haslinger tatsächlich dieses Wort benutzt und meint, dass er von Teilen der deutschen Kritik deshalb nicht akzeptiert werde, weil die immer Sprachkunstwerke erwarten würden (und so ganz Unrecht hat er damit ja keineswegs). Aber sie seien nun mal nicht seine Sache, denn Erzähler, die sich in den Vordergrund drängen und sich nur mit sich selbst beschäftigten, schätze er nicht.

So hat „Das Vaterspiel“ etwas von Rupert Kramer, genannt Ratz, seiner Hauptfigur: Der ist ein missratenes Kind, mit offensichtlichen Schwächen, aber auch mit eigenen Qualitäten. Auf die Zumutungen der Erwachsenenwelt reagiert er mit einer Haltung, die einen heutzutage etwas antiquiert anmutet, mit einer Verweigerungshaltung nämlich. Nun ist Erzählverweigerung so ziemlich der letzte Begriff, mit dem sich dieses Buch beschreiben ließe, aber auf eine gewisse Weise wirkt es auch wie aus der Zeit gefallen.

Was Haslinger umfangreich ausbreitet, ist die Kampfzone in einer Vor-Houellebecq-Welt. Hier ist es noch nicht schick geworden, an den Flexibilisierungstendenzen im globalisierten Kapitalismus oder den emotionszerrüttenden Rückseiten der sexuellen Befreiung zu leiden. Der Ich-Erzähler Rupert Kramer ist dagegen noch immer nicht mit Themen fertig, die die deutschsprachige Literatur in den Siebzigerjahren umtrieben, inzwischen aber aus der Mode gekommen scheinen: Er hadert mit seiner körperlichen Erscheinung, arbeitet sich an einer übermächtigen Vaterfigur ab, ist hilflos angesichts einer überforderten, vom Vater verlassenen Mutter, weiß nicht, wohin mit seiner sich entwickelnden Männlichkeit, und tut ansonsten alles, um bloß kein funktionierendes Mitglied der Gesellschaft zu werden. Das ist das eine. In einem zweiten Erzählstrang geht es um die deutsche Besetzung Litauens im Zweiten Weltkrieg: In Gerichtsprotokollen aus den späten Fünfzigerjahren lässt Haslinger einen zweiten Erzähler, Jonas Shtrom, von der gezielten Vernichtung der jüdischen Bevölkerung im Baltikum berichten. Und zum Finale in New York trifft Rupert Kramer dann auf jemanden, der an dieser Vernichtung beteiligt war: der Verbrecher gegen die Menschlichkeit als alter, hilfloser Mann.

Von all diesen Dingen erzählt Josef Haslinger in einer an amerikanischen Mustern orientierten Weise. Nicht umsonst taucht an hervorgehobener Stelle bei den Danksagungen der Name Uwe Wittstock auf. Der war, bevor er die Seiten zum Welt-Feuilleton wechselte, Haslingers Lektor beim Fischer Verlag und hat vor einigen Jahren eine Hinwendung zu unterhaltsameren, nicht mehr an den Techniken der Avantgarde geschulten Erzählweisen gefordert. Was immer man von dieser Forderung hält, Haslinger weiß mit ihr etwas anzufangen. Er springt zwischen den Erzählsträngen hin und her, setzt Plotpoints, dass es eine Freude ist, und hört eine Szene natürlich nie auf, ohne schon Erwartungen auf die nächste aufzubauen.

Im „Vaterspiel“ lässt sich gut studieren, was dieser Thrilleraufbau darüber hinaus, dass er den Leser bei der Stange hält, ermöglicht: Er erlaubt es, Geschichten zusammenzubringen, die eigentlich nichts miteinander zu tun haben, von allen Seiten Material in das Buch zu schaufeln und Episoden auch mal nebeneinander stehen zu lassen. Mit anderen Worten: Er erlaubt es, ein gesellschaftliches Panorama zusammenzubasteln. Und Haslinger nutzt das zu einem gleichsam wilden Erzählen, bei dem dann alles mit allem verbunden ist (oder auch nicht): die Episode, wie Rupert Kramers Großvater sich auf dem Lande in einen Menschenhass hineinsteigert, mit der Szene, in der Jonas Shtrom sein Leben rettet, weil er vor einem SS-Offizier fehlerfrei die „Glocke“ aufsagen kann; oder die Schilderung eines up to date eingerichteten Lofts in New York mit den ersten (und einzigen) Sexerlebnissen des Erzählers in Wien. Es gibt in der Sicht Josef Haslingers zu viele Geschichten, die erzählt werden wollen, als dass man sich mit Forderungen nach inhaltlicher Geschlossenheit herumschlagen sollte.

Manchmal mag einem allerdings das Ganze auch wieder nur wild dahererzählt vorkommen. Es wird kaum einen Leser geben, dem es gelingt, wirklich jeden der vielen Einfälle dieses ziegelsteindicken, 576 Seiten umfassenden Buchs zu goutieren. Mir ging ziemlich schnell die Art und Weise auf die Nerven, wie Haslinger Elemente der Popkultur behandelt. Der REM-Hit „Losing My Religion“ etwa wird zitiert, als sei er nie tagaus, tagein im Radio gedudelt worden und könnte immer noch als geheimes Zeichen des Einverständnisses wirken.

Um die weiteren Grenzen dieses Erzählprogramms aufzuzeigen, empfiehlt es sich, auf die Nahtstellen des Textes zu achten. Sie treten umso stärker hervor, als es hier nicht das eine zentrale Ereignis wie im „Opernball“ gibt, um das sich alle anderen Elemente wie von selbst gruppieren. So muss der Erzähler auf dem Weg von Wien zum Altnazi in New York seitenlang immer wieder mit dem Auto durch einen Schneesturm fahren, um die Verbindung zwischen den zwei Erzählsträngen zu halten; das sind eher Leerstellen als wirklich starke Szenen.

Aber letztendlich kommt es auf das an, was zwischen den Nahtstellen steht; dort findet sich gerade in der Vater-Sohn-Beziehung eine Eindringlichkeit, die das Buch über jeden Verdacht erhaben sein lässt, Haslinger würde in Thrillermotiven stecken bleiben. Die Geschichte des Vaters, der sich vom einfachen Arbeiter bis zum Minister hocharbeitet, dabei aber seine moralische Integrität verliert, wird in Österreich vor dem Hintergrund der zuletzt nicht eben ruhmreichen Geschichte der SPÖ gelesen werden. Erkennbar ist auch die Geschichte eines Aufsteigers, von den engen Verhältnissen der Kindheit bis in das ganz in Weiß eingerichtete Wohnzimmer einer geräumigen Vorortvilla. Die Szenen, in denen es zwischen Ich-Erzähler und seinem Vater gerade nicht zu einer direkten Auseinandersetzung kommt, gehören zu den Glanzstücken des Buchs.

An anderer Stelle zeigt Haslinger dann nebenbei, dass viele zunächst weit auseinander liegende Episoden doch einiges miteinander zu tun haben. Rupert Kramer ist da ein Zivildienstleister, der zu viel kifft, um einen Kranken auf der Bahre das Treppenhaus herunterzutragen. „Ein alter Mann im gestreiften Pyjama sagte, er könne ihn tragen, und mein Fahrer antwortete, wenn Sie das nicht geübt haben, können Sie das nicht. Aber der alte Mann sagte, er habe das im Krieg geübt. Der Notarzt sagte, der Krieg ist lange her, und der alte Mann sagte, für mich ist es erst gestern gewesen.“ Beiläufiger kann man nicht davon erzählen, dass die Spätfolgen des Kriegs keineswegs vorbei sind.

Eleganzprogramme jedweder Couleur mögen Josef Haslingers Sache nur bedingt sein. Die Art und Weise, wie er hier im Bergwerk des Textes ackert, ist unbedingt bewunderungswürdig.

Josef Haslinger: „Das Vaterspiel“.Fischer Verlag, Frankfurt a. M. 2000, 576 Seiten, 46 DM