Taktik samt Sinn für Geschichte

Wieder einmal letzte Chance. Wieder einmal guter Wille. Wieder einmal harte Positionen. Wieder einmal verhandeln Israel und die Palästinenser

von GEORG BALTISSEN

Ideen gibt es viele, Bewegung aber kaum. Dennoch haben die USA einen „Neustart“ im israelisch-palästinensischen Friedensprozess aufgelegt. Beide Seiten hätten den Willen bekundet, doch noch zu einer Einigung zu kommen, sagte US-Außenministerin Madeleine Albright. „Und so werden wir Schritt für Schritt vorangehen“, fügte sie hinzu. Israels Außenminister und Verhandlungsführer Schlomo Ben Ami erklärte, innerhalb der nächsten 14 Tage werde sich zeigen, „ob es eine Grundlage für ein Abkommen gibt oder es unmöglich ist, eine Einigung zu erzielen“. Im nächsten Monat geht der US-Kongress vor den Präsidentschaftswahlen in die Ferien und kann dann nicht mehr über die finanzielle Unterfütterung eines Friedensvertrages befinden. Das ist auch den Palästinensern bewusst, die laut Planungsminister Nabil Schaath deshalb sogar eine „Änderung in der Taktik der USA“ ausgemacht haben wollen, wie immer die auch aussehen soll.

Ohne Zweifel honoriert die US-Regierung mit ihren neuen, allerdings getrennten Gesprächen mit Israelis und Palästinensern die Entscheidung des Palästinensischen Zentralrats vom vorigen Wochenende, die Proklamation eines palästinensischen Staates um wenigstens zwei Monate zu verschieben. Laut dem Interimsabkommen von Scharm al-Scheich vom Mai vergangenen Jahres hätte der Friedensprozess am 13. September mit der Unterzeichnung eines Vertrages und der palästinensischen Staatsproklamation enden sollen. Doch wie so manches andere festgelegte Datum war dieser Termin ergebnislos verstrichen. Trotz ziemlicher Verärgerung hatte Jassir Arafat dennoch bekräftigt, dass „die eigene Verpflichtung zum Friedensprozess eine strategische Entscheidung“ ist, an der die Palästinenser festhalten wollen. In den strittigen Fragen wie der Forderung nach voller palästinensischer Souveränität über Ostjerusalem und ein prinzipielles Rückkehrrecht der palästinensischen Flüchtlinge hat Arafat sich jedoch nicht ein Jota bewegt. Und es scheint, als erwarte auch Israels Ministerpräsident Ehud Barak keine baldige Einigung mehr. Er werde sich künftig wieder mehr den innenpolitischen Problemen zuwenden, hatte er zu Wochenbeginn vor amerikanischen Juden in New York verkündet. Damit gesteht Barak indirekt ein, dass er sich in Arafat bislang gewaltig geirrt hat. Und mit ihm US-Präsident Bill Clinton. Beide hatten gehofft, den alternden, kranken „Mr. Palestine“ auf dem Gipfel in Camp David im Juli mit der Erfüllung seines Lebenstraums, erster anerkannter Präsident eines palästinensischen Staates zu werden, ködern zu können. Aber Arafat zeigte eine anderen Sinn für Geschichte. Der arabische Staatsmann, der Jerusalem aufgebe, müsse erst noch geboren werden, konterte er. Nach all den verhandlungspolitischen Schwächen und endlosen Terminverschiebungen, die er in den sieben Jahren seit Unterzeichnung des Oslo-Abkommens in Kauf genommen hatte, überraschte er mit dieser Haltung sogar sein Volk, das ihn prompt bejubelte.

Arafats langer Weg vom Guerrilla-Führer zum weltweit anerkannten Staatsmann hat ihn gelehrt, mit taktischen Finessen seine Gegner ins Schleudern zu bringen. Er ist ein unumstrittener Meister des politischen Bluffs. Niemand erkennt die Schwächen des Geners instinktiver und besser als er. Und immer hat bei Arafats Taktierei eine Rolle gespielt, wie er von seinem Gegenüber behandelt wird. Dass Clinton ihm unverblümt die Schuld am Scheitern des Camp-David-Gipfels gegeben hat, wird er nicht vergessen. Und es könnte deshalb durchaus sein, dass Bill Clinton seine Amtsperiode eben nicht mit dem Jahrhundertwerk eines Friedens im Nahen Osten krönen kann.

Eines hat Arafats Taktik auf jeden Fall bewirkt. Er steht als der Stärkere da, der die uneingeschränkte Unterstützung seiner Klientel besitzt. Selbiges kann Ehud Barak, der selbst in der 120-köpfigen Knesset nur noch über eine Truppe von 40 Getreuen verfügt, von sich weiß Gott nicht behaupten. Arafats Botschaft ist klar: Wenn es eine Einigung noch geben soll, dann muss sich die israelische Regierung bewegen. Doch auch für Barak sind die roten Linien deutlich markiert. Weder in der Frage der Flüchtlinge noch in der Frage Jerusalem will er den palästinensischen Wünschen entgegenkommen. Die kurzfristig mögliche Lösung scheint daher derzeit nur eine Ausklammerung des Themas Jerusalem zu sein – in bewährter Oslo-Manier so zu sagen.

Nach dem Scheitern von Camp David hatte Arafat auf seiner Tour durch die Welt rundweg Ablehnung für eine einseitige palästinensische Staatsproklamation einstecken müssen. Das dürfte beim nächsten möglichen Termin der Staatsproklamation am 15. November nicht mehr so sein. Im Jahre 1988 hatte der Palästinensische Nationalrat an diesem Tag in Algier Israel indirekt anerkannt und eine Zwei-Staaten-Lösung für das Nahostproblem gefordert. Die PLO trifft inzwischen Vorbereitungen, an diesem Tag Palästina als Vollmitglied der Vereinten Nationen registrieren zu lassen. Sollte dies gelingen, würde der Staat Palästina praktisch durch die Hintertür zu weltweiter Anerkennung gelangen. Und einen rechtsstaatlichen Anstrich würde sich dieser Staat geben, indem der Zentralrat endlich eine Verfassung für Palästina beschließt und die seit Jahren überfälligen Parlaments- und Präsidentschaftswahlen festschreibt. Über ein zusammenhängendes Territorium würde er dann allerdings immer noch nicht verfügen. Dieser Umstand könnte Jassir Arafat bewegen, doch noch den Kompromiss mit Israel zu suchen.

Sollte Israels Regierung aber, wie angekündigt, auf eine Staatsproklamation tatsächlich mit der Annexion weiter Teile des Westjordanlands oder des Gaza-Streifens reagieren, wird „Mr. Palestine“ sich zum obersten Verteidiger seines Landes küren. Und die Welt zum Widerstand gegen den israelischen Aggressor aufrufen. Ob die Israelis tatsächlich in diese selbst gestellte Falle laufen werden, mag dahingestellt bleiben. Arafat stünde gleichwohl da, wo er in den Geschichtsbüchern hinwill, in der Nähe Salaheddins, des legendären Befreiers Jerusalems von den Kreuzfahrern.