Ein Ruck und schwups!

Naim Suleymanoglu, Gewichtheber des Jahrhunderts, scheitert beim Versuch, seine vierte Goldmedaille in Folge zu gewinnen, und muss erkennen, dass auch Herkules nur ein Halbgott war

aus Sydney MATTI LIESKE

Er betrat die Bühne wie ein Champion, und er scheiterte grandios wie ein Champion: Naim Suleymanoglu, einer der kleinsten Gewichtheber aller Zeiten und der größte seit dem Riesen Atlas. Das wurde ihm im letzten Jahr sogar offiziell vom Weltverband IWF bestätigt, der den 1,60 Meter großen Türken, der es sogar in die Encyclopedia Britannica geschafft hat, zum Gewichtheber des Jahrhunderts kürte.

Dreimal in Folge hatte er die olympische Goldmedaille gewonnen, gestern sollte für den 33-Jährigen die vierte folgen, die ihm eigentlich schon seit 16 Jahren zusteht. Bereits damals galt er als unschlagbar, doch 1984 hieß er noch Nayum Shalamanow, war Bulgare und konnte in Los Angeles nicht antreten, weil sein Land die Spiele boykottierte. Frustriert setzte er sich 1986 in Melbourne von seinem Team ab, indem er durch die Hintertür eines chinesischen Restaurants entfleuchte, versteckte sich bei türkischen Freunden und suchte dann Unterschlupf in der türkischen Botschaft. Mit dem stolzen Betrag von einer Million Dollar wurden die Bulgaren von der Türkei befriedet, und die Karriere des Westentaschenherkules, wie er alsbald genannt wurde, konnte beginnen.

Gestern nun sollte sich, wiederum in Australien, der Kreis schließen, und als der erste Versuch Suleymanoglus im Reißen angekündigt wurde, eruptierte der Saal im Convention Center in einem türkischen Freudentaumel. Hoheitsvoll nahm der Gewichtheber die Huldigungen seiner Fans entgegen, hoch aufgerichtet, als wollte er seinen geringen Wuchs durch eine möglichst geschwellte Brust wett machen, schritt er zum Gerät. Mit einer eleganten Fingerbewegung zu den Lippen brachte er die Jubelstürme abrupt zum Verstummen, griff die Hantel, ein Ruck und, schwups!, fiel sie wieder runter. Gerade bis auf Augenhöhe hatte er das Gewicht gebracht, statt Triumphgeschreis gab es blankes Entsetzen im Raum. Der zweite Versuch verlief nicht besser, beim dritten brachte er die Hantel immerhin zur Hochstrecke, wankte einige hoffnungsvolle Zehntelsekunden lang, dann krachte sie hinter ihm zu Boden.

Das Unfassbare war geschehen: Naim Suleymanoglu, der Unverwundbare, war bereits vor dem zweiten Wettkampfteil, dem Drücken, ausgeschieden.

Eigentlich hatte sich Naim Suleymanoglu nach seinem gewaltigen Triumph in Atlanta als gemachter Mann zur Ruhe gesetzt. Er wolle nun all das nachholen, was er in seiner Jugend versäumt habe, sagte er, und wenn man den Gerüchten über sein ausschweifendes Nachtleben glaubt, tat er das auch.

Ausgesorgt hatte er sowieso, der türkische Staat ließ sich angesichts seiner Verdienste um das nationale Heberwesen nicht lumpen. 22 Häuser nennt der Miniherkules sein eigen. Suleymanoglu erklärte seinen Rücktritt am selben Tag wie Miguel Indurain, am 1. Januar 1997, doch anders als der spanische Radfahrer, der unaufhörlich betont, wie froh er ist, keine Berge mehr hinaufkraxeln zu müssen, hielt der Türke nicht durch. Anfang des Jahres schockte er die Gewichtheberzunft mit der Ankündigung, dass er in Sydney dabei sein wolle.

Nun ist ein olympischer Wettkampf im Gewichtheben zwar nicht vergleichbar mit der Tour de France, doch hartes Training ist allemal erforderlich, um bestehen zu können. Und Suleymanoglu hatte von vornherein keinen Zweifel daran gelassen, dass ihn außer Gold nichts interessierte. Viele Fachleute glaubten nicht, dass er mit 33 Jahren sein altes Niveau nach dieser Pause noch einmal erreichen könne. Er selbst jedoch blieb trotzig: „Ich habe dreimal gewonnen, warum sollte ich kein viertes Mal gewinnen?“ Bei den Europameisterschaften im Juni holte er Bronze, als er in Sydney ankam, behauptete er, nun in Topform zu sein. „Ich bin überzeugt, dass ich hier leichter Gold holen kann als in Atlanta“, verkündete er kühn.

Seinen Worten, dass Silber und Bronze für ihn nicht zählen, ließ er gestern Taten folgen. Da er mit 61,9 kg der schwerste aller in der 62-kg-Klasse angetretenen Gewichtheber war, musste er auf jeden Fall mehr heben als alle anderen, um Gold zu holen. Also pokerte er hoch und stieg mit 145 kg im Reißen ein, um keinen seiner drei Versuche für ein Gewicht zu vergeuden, das ohnehin nicht zum Sieg reichen würde. Nur der spätere Gewinner Nikolai Pechalov aus Kroatien ging dasselbe Risiko ein. Es war, als wollte der Türke den alten Suleymanoglu beschwören, der oft erst an die Hantel ging, als alle anderen schon ausgeschieden waren, und dann einsam seine Weltrekorde hob, mehr als 50 insgesamt. Doch die Skeptiker behielten recht, und am wohl definitiven Ende seiner Karriere musste Naim Suleymanoglu schließlich einsehen, dass auch ein Herkules eben doch nur ein Halbgott ist.