„Die Ohren werden zu viel gespitzt“

Ist die deutsche Literaturkritik provinziell? Und wie lässt sich die Bücherwelt neu inszenieren? Ab Mittwoch ist die Zeitschrift „Literaturen“ am Kiosk zu haben. Vorab ein Gespräch mit dem Redakteur Jan Bürger und der Chefredakteurin Sigrid Löffler

taz: Wir wollen Sie gar nicht mit der ersten Frage langweilen, ob Sie tatsächlich glauben, dass sich Ihre Literaturzeitschrift durchsetzen wird . . .

Sigrid Löffler: Jaja, wir sind guten Mutes. Alles, was wir von der geschäftlichen Seite hören, ist verheißungsvoll.

Aber können Sie sich das erklären? An Möglichkeiten, sich über neue Bücher zu informieren, besteht kein Mangel.

Löffler: Das ist richtig. Aber die großen Buchrezensionsbeilagen zu den Buchmessen reihen die Besprechungen einfach aneinander. Wir dagegen haben uns vorgenommen, die Bücherwelt zu inszenieren, sie zu hierarchisieren und in Schwerpunkten vorzustellen.

Sie haben einen Willen zum Magazin?

Löffler: Wenn Sie wollen, können Sie Magazin sagen. Wir sagen lieber Journal. Die Zeitschrift wird im Untertitel „Journal für Bücher und Themen“ heißen, wobei uns die Themen ebenso wichtig sind wie die Bücher. Daraus ist schon zu erkennen, dass unser Projekt journalistischer gedacht ist. Wir wollen wegkommen von der Rezensionsmonokultur. Man kann spannender und abwechslungsreicher über Literatur und literarisches Leben schreiben, als es nur die klassische Form der Rezension erlaubt.

Jan Bürger: Möglicherweise gibt es sogar ein Überangebot an Rezensionen, gerade in diesen dicken Beilagen. Kompaktere Formen oder Schwerpunktsetzungen werden dagegen nicht gepflegt.

Haben Sie sich an konkreten Vorbildern orientiert?

Löffler: Man kann sich überall etwas abgucken. Wenn Sie sich eine Mischung denken aus Transatlantik, New Yorker und New York Review of Books, dann kommen Sie ganz gut hin. Die New York Review ist zwar eine reine Essayzeitschrift, aber wenn man zu ihrem hohen Anspruch und der Klasse ihrer Autoren noch andere journalistischen Formen wie Reportagen, Porträts und Interviews hinzurechnet, ist gut beschrieben, was wir im Sinn haben.

Bürger: Die New York Review steht dafür, anspruchsvolle Inhalte zu transportieren und dabei sehr lesbar zu sein. Man pflegt dort den eleganten, schönen Text. Wenn wir ein bisschen dazu beitragen können, dass dieser Anspruch auch in Deutschland wieder mehr kultiviert wird, ist viel erreicht. Das Vorurteil, komplexe Gedanken seien nicht einfach auszudrücken, ist leider immer noch weit verbreitet. Dabei besteht darin doch die eigentliche Herausforderung.

In den USA gibt es einen breiten Fundus von brillanten Essayisten. In Deutschland gibt es die Germanistikprofessoren. Lassen sich hierzulande genug Autoren finden, die Ihre Ansprüche umsetzen können?

Löffler: Solche Autoren, die nicht oberlehrerhaft mit ihrem Wissen herumprotzen müssen, sondern es elegant auffunkeln lassen können, existieren durchaus. Ich denke beispielsweise an Jan Philipp Reemtsma. Außerdem bemerkt man deutlich einen Generationswechsel: Die jüngere Generation im akademischen Bereich sieht den Umgang mit dem Journalismus inzwischen schon viel entspannter.

Zu Ihrem Literaturbegriff: Gehört „Harry Potter“ dazu?

Löffler: Ja. Im Oktoberheft ist das Buch drin.

Was ist mit Suhrkamp Taschenbuch Wissenschaft?

Bürger: Die stw-Bände sind doch sehr interessant. Aber sicher müssen wir Fragestellungen finden, mit denen die Leser etwas anfangen können. Man muss immer wieder versuchen, den alten Impuls wiederzufinden, den man hatte, bevor man sich professionell mit Theorie beschäftigte. Es muss um Fragen gehen, die einen tatsächlich beschäftigen.

Grisham?

Löffler: Na, sicher. Andererseits braucht man gerade für die vermeintlich seichtere Literatur besondere Autoren. Wir haben überraschende Querbesetzungen im Sinn und suchen nach Leuten, die man nie mit Unterhaltungsliteratur in Verbindung bringen würde.

Bürger: Darüber hinaus geht es darum, im Unterhaltungsgenre das zu finden, was dort auch hervorragend ist: was Qualität hat und vor allem auch unterhält.

Sie wollen Unterhaltung mit demselben Ehrgeiz behandeln wie, sagen wir, Botho Strauß?

Löffler: Natürlich.

Ein gestandener deutscher Literaturkritiker der alten Schule würde jetzt anfangen, die Ohren zu spitzen.

Bürger: Vielleicht werden die Ohren viel zu viel gespitzt in dieser Hinsicht.

Löffler: Wir haben keine Berührungsängste. Außerdem hat sich das Leseverhalten doch längst geändert. Niemand bedient sich inzwischen nur aus einem Segment. Man liest Krimis, Science-Fiction und dazwischen Pierre Bourdieu oder Richard Rorty. Warum sollten wir irgendetwas ausschließen?

Bürger: Die deutsche Literaturkritik kann sich im Moment nicht gerade darüber beklagen, dass sie zu viel gelesen würde. Vielleicht sind die Berührungsängste und gespitzten Ohren ein Stück der Ursache dessen.

Frau Löffler, als Sie Feuilletonchefin der „Zeit“ wurden, sagten Sie, da viele Tageszeitungen nun das machen, was früher Wochenzeitungen vorbehalten war, müssten Wochenzeitungen sich nun eher an Monatszeitschriften orientieren.

Löffler: Damals hätte ich das als die richtige Strategie empfunden. Ich habe nicht den Eindruck, dass die Zeit meinen Empfehlungen gefolgt ist. Also machen wir es jetzt selber.

Aber eben als Monatszeitschrift. Ist das nicht ein Schritt zurück?

Bürger: Wir versuchen die monatliche Erscheinungsweise insofern zum Programm zu machen, als es uns darum geht, eine andere Geschwindigkeit in diesen durchdrehenden Markt einzuführen. Leider ist das Wort von der Entschleunigung inzwischen ziemlich verbraucht, aber eigentlich trifft es unsere Idee ganz gut. Ein längeres Gedächtnis ist doch nichts Schlechtes. Wer wählt denn ein Buch ernsthaft unter dem Aspekt aus, dass es brandneu ist? Die schönsten Leseerlebnisse entstehen doch, wenn man den Tipp bekommt: Hier, lies das mal. Und dann ist es egal, ob das Buch fünf oder hundert Jahre alt ist.

Es werden auch Bücher behandelt, die fünf Jahre alt sind?

Löffler: Das Entscheidende ist, dass wir den Markt kritisch anschauen. Natürlich wird man auf bestimmte Neuerscheinungen immer hinweisen müssen. Aber als Monatszeitschrift sind wir keineswegs sklavisch daran gebunden, alles, was der Markt uns liefert, einfach durchwinken zu müssen. Wir picken uns raus, was spannend ist, kontextualisieren das anders, haben uns vorgenommen, gelegentlich überraschende Schwerpunkte zu setzen, die mit vordergründiger Aktualität gar nichts zu tun haben. Wenn wir einen Autor für interessant halten, interviewen wir ihn, porträtieren ihn oder bitten ihn, selbst etwas zu schreiben. Das ist nicht daran gebunden, dass er gerade ein aktuelles Buch herausgebracht hat.

Halten Sie die deutsche Literaturkritik für pronvinziell?

Löffler: Ich habe keine geringe Meinung von ihr. Eher im Gegenteil. Was das kritische Instrumentarium betrifft, steht sie im internationalen Maßstab sogar sehr gut da. Die guten deutschen Kritiker haben ein funktionierendes kritisches Besteck, das sie aufblitzen lassen können. Aber man kann die Texte manchmal vielleicht etwas verknappen oder auch brillanter schreiben.

Es existieren ja verschiedene Schulen, welchem Kritiker man welches Buch zur Rezension gibt. Entweder man sucht einen Autor mit einem freien Blick oder den Kenner.

Löffler: Wir suchen den freien Blick. Alles andere ist zu erwartbar.

Haben Sie eigentlich Schwierigkeiten, sich inhaltlich zu positionieren? Die Zeiten, in denen die Literaturlandschaft klar strukturiert war – die „FAZ“ unter Marcel Reich-Ranicki stand für realistische Erzählprogramme, die „Zeit“ war ihre moderne Gegenspielerin –, sind ja wohl vorbei.

Löffler: Das kann man sogar als Erleichterung begreifen. Ich glaube, dass die großen, alten, autoritären Figuren den Blick auf die Literatur etwas verstellt haben. Da gab es Erstarrungen. Jetzt ist der Blick etwas freier geworden. Erkauft wird es dadurch, dass die jüngeren Kritiker nicht mehr diesen autoritären Gestus haben, das ergibt natürlich einen gewissen Verlust an Autorität. Aber das halte ich nicht a priori für etwas Schlechtes.

Aber es war zu lesen, dass Sie bei Kritiken immer noch auf einem literarischen Urteil bestehen.

Löffler: Natürlich. Feuilletonkritik – und so weit gehören wir zum Feuilleton – ist immer Urteilskritik. Eine Kritik muss ein streitbares Urteil enthalten.

Bürger: Ein Urteil ist ja kein Gesetz, das allgemeingültigen Anspruch erhebt. Es ist eine These, die zur Diskussion gestellt wird. Dann kann man anfangen, sich an ihr zu reiben – dann entstehen auch Debatten. Nichts ist weniger erhellend als ein unentschiedener Beitrag.

Frau Löffler, war das das erste Interview, bei dem Sie nicht auf das „Literarische Quartett“ angesprochen wurden?

Löffler: Ja. Und ich wäre dankbar, wenn es dabei bleibt.

INTERVIEW: DIRK KNIPPHALS