Nie wieder Frieden

Das 4. Philosophicum Lech nahm den Krieg als „Vater aller Dinge“ aufs Korn und traf den Frieden
von SABINE LEUCHT

Nachts murmelt der Bach, der ein Fluss sein soll und so heißt wie der Ort, an dem man vergeblich zu schlafen sucht: Lech. Bei geöffnetem Fenster entpuppt sich das Murmeln als Rauschen, und dass dieses gar nicht beruhigt, liegt vielleicht an seiner Unentrinnbarkeit. Die nämlich hat das Lärmen des Wassers mit dem Thema gemein, das einige Häuser weiter verhandelt wird: Es ist der Krieg.

Das vierte Philosophicum Lech beschäftigte sich mit Heraklits „Vater aller Dinge“. Auf 1.444 Höhenmetern zwischen den Lechtaler Alpen, wo vor einem Jahr Peter Sloterdijk reichlich verschnupft seinen ersten postskandalösen Pressetermin abhielt, übten vergangenes Wochenende Philosophen, Kulturwissenschaftler, Schriftsteller und Historiker das Nachdenken über den Krieg: seine Dynamik, seine Ästhetik, seine Moral. Doch das rege Medieninteresse weckte diesmal keinen neuen Skandal. Was das angeht, hätte man sich ebenso gut am rauschenden Lech niederlassen können, der eben auch dynamisch ist, schön und kraftvoll und der vielleicht – während wir wegschauen – Stromschnellen gebiert und Wasserfälle, in großen Gewässern aufgeht oder in blühenden Wiesen. Nur Moral, die gebiert und kennt er nicht.

Beim Krieg sind sich da heute bekanntlich selbst jene nicht mehr so sicher, für die er fünfzig Jahre lang das Übel schlechthin bedeutete. Der zweite Golfkrieg und spätestens das Schlachten im Kosovo erschufen in Deutschland nicht nur den Typus des „schreibenden Bellizisten“, wie Tagungsleiter Konrad Paul Liessmann in seiner Eröffnungsrede meinte, sondern auch handlungsbereite Politiker mit grüner Weste und menschenfreundlichem Lächeln. Aus „Nie wieder Krieg“ ward „Nie wieder Auschwitz“, und das Gewissen des Pazifismus blieb ruhig.

Hier zeigt sich der Krieg auch als Vater der menschlichen Biegsamkeit und der großen Worte; und dass seine Hölle ein bisschen weniger höllisch sein könnte, wenn man einige Regeln aufstellt, durchwehte als Hoffnung so manchen Beitrag. So glaubte Sibylle Tönnies, es sei schon etwas gewonnen, wenn man militärische Strukturen durch (welt-)polizeiliche ersetze, und Herlinde Pauer-Studers Vortrag hatte den hehren Anspruch, zu klären, wann Gesellschaften die moralische Keule zu Recht schwingen und wann sich dahinter bloß die uralte Überlegenheitsrhetorik über alles Fremde und Andere tarnt. Am Ende hat die Wiener Philosophin den hochtrabend „gerechten“ in den lediglich „zulässigen“ Krieg umbenannt, der – in den Händen von „anständigen Gesellschaften“ – vielleicht das Schlimmste im Schlimmen zu verhindern vermag. Doch blieb ihr Modell mangels Verifizierbarkeit von Intentionen im vagen Zwar-aber-Kreis gefangen: Moral ist wichtig, ein Rest moralischer Schuld aber bleibt am Ende immer. Krieg, könnte man sagen, Krieg ist eben Krieg. Das war ein müder Punkt am frühen Nachmittag des zweiten Tages, an dem die Tagung vorübergehend als Ort erschien, an dem Professoren ihre Zettelkästen auf die Suche nach der These schicken. Hatte sich doch zuvor auch schon Alexander Demandt mit vielen Zahlen und Namen durch die Geschichte des Vandalismus erzählt. Am Ende aber blieb wenig mehr als der Verdacht, die beeindruckende Materialsammlung des Althistorikers wolle vorerst nichts als auf sich selber zeigen: Da schaut, so viel! Lediglich ein einsamer Satz konnte sich gegen den Faktenwust behaupten: „Zu allen Zeiten wurde Vandalismus mit gutem Gewissen praktiziert.“

Auch anderen Vortragenden gelangen solche Sätze, und irgendwann begannen sie alle im Stillen miteinander zu korrespondieren. So etwa Zarko Puhovskis provokantes Statement „Getötet wird nie aus Hass, sondern aus Liebe“ mit Adolf Holls schelmischer Ergänzung zum etwas schlichten „Religion ist Krieg“: „In Bezug auf die Ungläubigen muss die Liebe hart sein.“ Was der Zagreber Professor für politische Philosophie und der Wiener Theologe hier ansprachen, kommt dem Wesen des Krieges womöglich recht nahe, der als „Vater aller Dinge“ vielleicht vor allem Brutstätte wie Austragungsort menschlicher Widersprüchlichkeiten ist. Wäre der Krieg nichts als die Verlängerung der Dummheit, wie es einige Romantiker wollen, hätten Aristoteles, Kant und Hegel wohl kaum zu seinen „Vordenkern“ (Puhovski) gezählt.

Um dieses eigenartige Faszinosum zu verstehen, genügt es nicht, ins Wasser des Flusses zu schauen und die Kiesel auf seinem Grund zu katalogisieren. Man muss schon mal einen entschieden herausgreifen und in der Sonne blinken lassen. Das kann man wie der Politologe Herfried Münkler machen, der dem Philosophicum einen provokanten Auftakt bescherte, oder wie Rudolf Burger, der sich den Krieg von den Generälen erklären ließ. Aber auch ganz anders: Der schwedische Schriftsteller und Osteuropakorrespondent Richard Swartz nimmt einfach die Familie seiner jugoslawischen Frau. Die verstehe sich als Schriftstellerin, Mutter und Feministin. Sein Schwiegervater konnte sich mit dem Kommunismus identifizieren, und seine Schwiegermutter definiert sich noch heute als „Witwe, der sie die Pension gestohlen haben“. Swartz will damit zeigen, dass „das nationalistische Programm“ ein künstlich verordnetes ist, das die alten Machthaber des ehemaligen Jugoslawien brauchen, um sich im Post-Kalten-Krieg-Vakuum neu zu legitimieren. Es ist vielleicht ein einfaches Erklärungsmuster, aber man kann sich an ihm reiben: Der Grund des Krieges liegt in der Politik, sein Dilemma zeigt sich im Privaten.

Eine ganz andere Art der Privatheit hatte Herfried Münkler im Blick, der im Krieg des 21. Jahrhunderts nicht Clausewitz’ „Fortsetzung der Politik mit anderen Mitteln“ sieht, sondern Fortsetzung der Ökonomie: Bereits heute gibt es ungleich mehr Bürger- als Staatenkriege, und die werden nicht auf dem Schlachtfeld entschieden, sondern dauern so lange an, wie Söldner und „Warlords“ davon profitieren. Das sei, so Münklers These, prinzipiell unendlich: „Der privatisierte Krieg ernährt sich selbst.“ Und die „humanitären Hilfsgüter“ der Vereinten Nationen tragen das ihre dazu bei.

Auch Rudolf Burger wettert gegen den Begriff wie die Idee der „humanitären Aktion“: Humanitär verhalte sich zu human wie freiheitlich zu Freiheit, womit er in Österreich viele verständige Lacher erntet. Die meisten kleinen Kriege würden laut Burger immer zu früh unterbrochen und damit lediglich der Konflikt künstlich konserviert. Dagegen sagt Burger, Münkler entgegen, doch mit dem Zynismus des Lebens auf seiner Seite: „Jeder Krieg ist eine friedensschaffende Maßnahme, sie müssen nur lange genug warten.“ Hier rückt erstmals im Reden über den Krieg auch die Qualität des Friedens in den Blick, in dem auch Puhovski mehr sieht als das gleichförmige Andere des Krieges. Der Friede, sagt er, sei auch die Zeit, in der die Partei der Sieger sich das Erreichte schönredet: „Ich bin nicht mal sicher, dass ein gerechter Friede nach dem Krieg denkbar ist.“

Vielleicht lohnt es sich, die Frage des Philosophicums einmal anders zu stellen: Wessen Friedens Vater ist der Krieg? Oder: Welcher besonderen Art des Friedens enspringt welche Art des Krieges? Das Nachdenken über den Frieden in Friedenszeiten hat die Zeit auf seiner Seite. Denn im Frieden ist Muße genug vorhanden, potenziell kriegerischen Parteien – also allen – unter das Mäntelchen zu sehen, mit dem sie ihre wahren Ziele verdecken.

Hinweis:Frieden ist mehr als das Andere des Krieges – der Friede ist auch die Zeit, in der die Partei der Sieger sich das Erreichte schönredet