die stimme der kritik
: Betr.: Geißler, Kohl und andere Glaubenssachen

Gleitflug zu Gott

Mit Göttern hat Heiner Geißler so seine Erfahrungen gemacht. Einst zählte der katholische Schwabe zum engsten Kreis der Kohl-Jünger – zuerst als Sozialminister in Mainz, dann als CDU-Generalsekretär und schließlich als Bundesminister. Doch früher als andere fiel Geißler von dem bedingungslosen Glauben ab, den der oberste Spendensammler im Kanzleramt verlangte. Der Bremer Putschparteitag 1989 wurde für ihn zum letzten Abendmahl: Geißler war fortan als Judas abgestempelt. Die öffentliche Kreuzigung des Einheitskanzlers ließ allerdings noch zehn Jahre auf sich warten. Auch da füllte der abgefallene Apostel seine Rolle aus. Als erster prominenter Unionspolitiker erleichterte er sein christliches Gewissen und redete offen über die „Sonderkonten“ der Partei.

Heute interessiert sich der 70-Jährige nur noch am Rande für Schwarze Kassen, längst hat er sich wichtigeren Themen zugewandt. In seinem neuen Buch sucht Geißler eine Frage zu beantworten, mit der sich die Menschheit schon beschäftigte, als es Helmut Kohl noch gar nicht gab: „Wo ist Gott?“ War der Nebenjob als Buchautor früher eine politische Pflichtübung, so ließ sich Geißler diesmal – nach eigenem Bekunden – von der puren Schreiblust die Feder führen.

Mit ähnlichem Enthusiasmus hatte sich der Mann, den Willy Brandt einst mit Goebbels verglich, bislang nur über das Bergsteigen verbreitet. Das Taschenbuch erschien sinnigerweise in der Reihe „Philosophie der Passionen“ – ein Begriff, der die Leidenschaft mit dem Leiden Christi aufs Trefflichste vereint, steht doch ein Extremsportler mit dem Überirdischen auf vertrautem Fuß: Nicht nur mit dem Himmel, sondern auch mit dem Schicksal bringt ihn das riskante Hobby auf Tuchfühlung. Das musste Geißler selbst erfahren, als er 1992 mit dem Gleitschirm schwer verunglückte.

Der Gedanke an den Tod, sagt Geißler heute, sei „einer der Hauptanlässe, über Gott nachzudenken“. Der einstige Jesuitenschüler tut es auf seine eigene Weise. „Der Tod ist total demokratisch“, glaubt er, „von 100 Menschen sterben 100.“ Keine Frage: Geißlers Gott trägt ziemlich rationale Züge. Dass Adam und Eva das Paradies verlassen mussten, weil sie selbst zu denken wagten – daran will der Christdemokrat nicht glauben, auch wenn es in der Bibel steht. Nicht einmal vor dem Messias, der den Deutschen ihre Einheit brachte, machte Geißlers Zweifel halt – auch wenn Helmut Kohl gewiss Auferstehung und Himmelfahrt erhofft. RALPH BOLLMANN