Im Biotop der Langnasen

Die Flut drastischer Weltrekorde im olympischen Becken hält an. Die australischen Erfolgsschwimmer wehren sich gegen jeden Dopingverdacht und erklären ihre Heimat zu einer Insel der Seligen

aus Sydney MATTI LIESKE

Gestern um 20.30 Uhr Ortszeit war wieder einmal Thorpey-Time im Aquatic Centre des Olympischen Parks von Sydney. Der inzwischen schon zur lieben Gewohnheit gewordene Aussie-Roar brandete durch die Halle, als das Publikum des dunkelblauen Strampelanzugs von Ian Thorpe gewahr wurde, der sich anschickte, Australiens 4 x 200-Meter-Freistilstaffel als Startschwimmer zum Sieg zu kraulen und sein drittes Gold zu holen. Anders als am Tag zuvor, als ihm der kleine Fauxpas unterlaufen war, hinter dem Niederländer Pieter van den Hoogenband nur Silber zu holen, ließ er diesmal keinen Zweifel daran, wer der König im olympischen Biotop der Langnasen ist. Den Vorsprung, den Thorpe auf den ersten 200 Metern herausholte, brauchten seine drei Kollegen Michael Klim, Todd Pearson und William Kirby nur noch zu verteidigen. Sie bauten ihn dann sogar aus, schwammen beim Festival der Bestmarken einen weiteren drastischen Weltrekord (1,74 Sekunden schneller als der alte), und der gefürchtete van Hoogenband schaffte es nur noch, seinen Holländern mit fulminantem Einsatz wenigstens Bronze hinter den USA zu sichern. Kurz zuvor hatte er im Halbfinale über 100 Meter Freistil in 47,84 Sekunden einen neuen Weltrekord aufgestellt und die von Klim erst am Samstag als Startschwimmer der 4 x 100-Meter-Freistilstaffel aufgestellte Bestzeit gleich um 34 Hundertstel unterboten.

Nachdem zuvor schon Susie O’Neill über 200 m Freistil triumphiert hatte, jene Strecke, auf der die im Semifinale gescheiterte Franziska van Almsick sich an diesem Abend eigentlich in eleganter Manier von Olympia verabschieden wollte, war das australische Glück mit dem Staffelsieg auch gestern wieder komplett, und es können weitere Sonderbriefmarken der Goldkrauler gedruckt werden. Keine Sportart kann es hierzulande mit dem Schwimmen aufnehmen, die größten Sportlegenden des Kontinents sind mit Dawn Fraser und Murray Rose selbstverständlich Schwimmer, und nichts war im Vorfeld dieser Olympischen Spiele so wichtig, wie die Schwimmer auf Goldrausch zu trimmen. Eine Aufgabe, der sich Cheftrainer Don Talbot mit Vehemenz widmete – auch verbal.

Zuletzt war er gefordert, als der brasilianische Cheftrainer Michael Lohberg kurz vor den Spielen mit den Worten zitiert wurde. „Entweder ist ein Athlet sauber oder er kämpft um Gold. Beides zusammen geht nicht.“ Man könnte nach Besichtigung der ersten olympischen Wettkampftage hinzufügen: Entweder der Athlet hat ein Jay-Leno-Kinn und eine Pinocchio-Nase oder er hat keine Chance. In kaum einer anderen Sportart steht den Sportlern das Mittel ihrer Leistungssteigerung so ins Gesicht geschrieben wie beim Schwimmen.

Das deutsche Staffel-Quartett belegte im Rekordrennen nur Rang sechs. Deutsche Aktive wie Mark Warnecke oder Chris Carol-Bremer, die gleichzeitig Mediziner sind, haben in der Vergangenheit wiederholt auf seltsame Veränderungen der Physiognomien hingewiesen, die den Gebrauch von Wachstumshormonen nahelegen. Das böse Wort von den HGH-Spielen (HGH = Human Growth Hormon) macht in Sydney seit längerem die Runde, nachdem das IOC entsprechende Tests verschleppte und schließlich verhinderte.

Die Dopingdebatte hat jedoch die Eigentümlichkeit, dass zwar alle sagen, es wird weltweit geschluckt und gespritzt, was das Zeug hält, doch just die eigenen Sporthelden die berühmte Ausnahme darstellen. Eine kleine Insel der Seligen, wo die letzten verbliebenen sauberen Athleten wohnen und sich dennoch auf wundersame Weise gegen die vollgepumpte Konkurrenz behaupten können.

Eine solche Exklave wurde auch in Australien errichtet, und die Konter auf Verdächtigungen der Multimedaillenhoffnungen Thorpe, Hackett, Klim oder O’Neill kamen schnell und heftig. So auch im Falle Lohberg. „Wir wissen um die Glaubwürdigkeit der Schwimmer, nicht nur in Australien, sondern in der ganzen Welt“, tönte Schwimmpräsident Terry Gathercole, und Don Talbot rügte betont blauäugig die These des Brasilianers: „Dafür gibt es im Schwimmen überhaupt keinen Beweis.“ Die Aktiven reagieren in solchen Fällen stereotyp mit Empörung, dem Hinweis auf absolvierte Dopingtests und dem Angebot, sich auf der Stelle weiteren Blut- und Urinproben zu unterziehen. Wohlwissend, dass auch der in Sydney angewandete Epo-Test nur wenige Tage rückwirkend funktioniert.

Chris Carol-Bremer ist übrigens nicht in Sydney. Er hat knapp die Olympianorm verfehlt, jene Norm, die er stets kritisiert hatte, weil sie sich an den Leistungen gedopter Athleten orientiere. Dass das NOK den Antrag des Schwimmverbandes ablehnte, den Hannoveraner als Härtefall doch für Olympia zu nominieren, kann so fast als Aufforderung zum Doping interpretiert werden.

Im australischen Thorpey-Rausch und Klim-Fieber haben derartige Themen momentan jedoch überhaupt keinen Platz mehr. „Eine weitere große Nacht für Australien“, schwärmte Michael Klim nach dem Staffelsieg, „hoffentlich können wir so weitermachen.“ Es müsste schon mit Pinocchio zugehen, wenn es anders käme.

Mächtig: Thorpe-Nase FOTO: AP