Die zerbrochene Community

Ausländer in Berlin: Ende der 60er-Jahre kamen tausende Jugoslawen als Gastarbeiter. Der Krieg in ihrer Heimat trennte sie auch in Berlin in Serben, Kroaten und Bosnier. Danach kamen tausende Flüchtlinge. Bis heute kämpfen sie um ein Bleiberecht

von JEANNETTE GODDAR

Als die Ivancics nach Schöneberg zogen, führten durch die Goltzstraße noch Straßenbahnschienen, der Kiez rund um den Winterfeldtplatz war fest in deutscher Hand. Man schrieb das Jahr 1969, das Anwerbeabkommen zwischen Jugoslawien und der Bundesrepublik Deutschland war von Josip Broz Tito und Willy Brandt soeben unterzeichnet worden. Massenhaft unterzogen sich die Bewohner Jugoslawiens dem bei der Rekrutierung von „Gastarbeitern“ üblichen Gesundheitscheck, ließen von deutschen Ärzten noch vor Ort ihre Wirbelsäule, ihre Muskulatur und ihre Zähne begutachten, bevor sie einreisen durften. Grgo Ivancic jedoch hatte vor seinem Umzug nach Berlin schon drei Jahre auf Münchner Baustellen gearbeitet.

Mit seiner Frau zog er in eine kleine Pension in der Salzburger Straße. Sie, obwohl überzeugte Katholikin, wurde Krankenpflegerin in einer evangelischen Klinik, er wurde Vorarbeiter auf dem Bau. Eigentlich, sagen beide, bestand ihr Leben in Deutschland aus nichts als Arbeit. „Jung gewesen und gearbeitet“, sagt sie, „und natürlich das Leben für die Familie. Viel Zeit blieb da nicht.“

Heute ist sie 54 und er 58. Bei beiden will der Rücken nicht mehr so wie früher. Sie will möglichst bald in Rente gehen, er musste nach 33 Jahren auf dem Bau seine Arbeit aufgeben und arbeitet heute als Küster und Hausmeister in der katholischen Kirche auf dem Winterfeldtplatz.

Von den drei Kindern wohnt nur noch der jüngste zu Hause; die beiden älteren haben bereits die Universität verlassen und arbeiten als Informatiker und Sozialpädagogin in Berlin. Der jüngste ist gerade mit einem Freund im Urlaub an der kroatischen Adria-Küste. Die Eltern haben ihren Urlaub schon hinter sich. Wie in jedem Jahr haben sie dort Familie und Freunde besucht. „Der Sommer ist immer herrlich“, sagt Grgo Ivancic, „egal ob die Leute in Australien oder Kanada leben – die meisten verbringen ihre Ferien wieder in der Heimat.“

Denn ausgewandert sind viele seit dem Sommer 1990, als auch die Ivancics schon bei ihrer Ankunft in Kroatien spürten, dass sich viel veränderte. „Plötzlich tratschten Leute übereinander, die jahrelang gute Nachbarn waren“, erzählt Grgo Ivancic, „es war eine ganz seltsame Stimmung – als ob man an jeder Straßenecke einen Spion witterte“. Wenig später stießen sie im Hinterland auf die ersten Straßenbarrikaden. In der Bucht von Split zählte Ivancic eines Morgens 14 Kriegsschiffe. Kurze Zeit später war der Krieg auf dem Balkan in vollem Gange.

Wieder in Berlin angekommen, erreichten die Ivancics aus dem Bekanntenkreis Nachrichten wie die, dass ein Mann seine eigene Ehefrau erschossen habe. Die Serben, so hieß es auch in ihrer Familie, mordeten nach Lust und Laune. Die Ivancics entschlossen sich zu handeln: Binnen weniger Wochen gelang es ihnen und ihren Freunden, alleine unter kroatischen Restaurantbesitzern 100.000 Mark einzusammeln. „Natürlich wurden davon auch Waffen gekauft“, erzählt der 58-Jährige nüchtern. „Wir mussten uns doch gegen die Serben verteidigen!“ Dann aber beeilt er sich doch hinzuzufügen, während der Kriegsjahre bis 1995 insgesamt 23-mal mit karitativen Organisationen nach Bosnien und Kroatien gereist zu sein, um warme Kleidung und Medikamente unter die Leute zu bringen. Allerdings auch nur für Kroaten. Mit Serben, erzählt er, habe er seither nur noch in Berlin zu tun – und auch das nur in Situationen, in denen nicht über Politik geredet wird.

Nicht nur im ehemaligen Jugoslawien geht seit Ausbruch des Krieges ein Riss durch die Bevölkerung. Bosiljka Schedlich, selbst als Gastarbeiterin nach Berlin gekommen, arbeitete Anfang der 90er-Jahre als Gerichtsdolmetscherin. Sie berichtet von diversen Scheidungsverfahren, von Prügeleien, Beschimpfungen und Verletzungen unter Eheleuten, die zwanzig Jahre gemeinsam in Berlin lebten. „Seitdem weiß ich über die Macht von Propaganda“, sagt Schedlich, „plötzlich war die eigene Kultur zu etwas geworden, was einem das Recht gab, andere wegen einer anderen Kultur zu hassen.“ Auch Schedlich verschweigt nicht, dass Angehörige sämtlicher Volksgruppen in Berlin tief in die Tasche griffen, um den Krieg zu subventionieren. „In vielen Familien galt das als Ehrensache“, sagt Schedlich, „quasi als patriotische Selbstverständlichkeit.“

Zur gleichen Zeit schossen nationalistische Vereine in Berlin wie Pilze aus dem Boden. Auch wenn die „Gleichschaltung“ in den serbischen Vereinen am vollständigsten gewesen sei, sagt Schedlich, seien auch die meisten kroatischen Vereine abgedriftet oder wurden überhaupt erst gegründet. „Es war geradezu frappierend“, sagt Schedlich, „in wie kurzer Zeit die Diaspora in Berlin zu einem Spiegelbild der Heimat wurde.“ So schmerzhaft das Auseinanderbrechen ihrer Community für sie auch war – verübeln kann sie es ihren Landsleuten nicht: „Menschen sind nicht aus Stahl“, sagt sie, „wir bestehen zu siebzig Prozent aus Flüssigkeit, wir sind zerbrechlich, wir bekommen schnell Angst.“ Als Reaktion darauf, und um einen Ort für „normale Begegnungen“ zu schaffen, gründete Schedlich den Verein „Südost-Europa-Kultur e. V.“, der in den kommenden Jahren allerdings nicht nur Kulturarbeit leistete, sondern auch zu einer wichtigen Anlaufstelle für tausende Flüchtlinge wurde.

Jetzt, fünf Jahre nach dem Friedensabkommen von Dayton, sorgen sich die Mitarbeiter diverser Flüchtlingsinitiativen vor allem darum, was aus den zahllosen traumatisierten Flüchtlingen werden soll, die sich nicht nach Hause trauen, aber auch immer noch keinen dauerhaften Aufenthaltsstatus hier haben.

Schlimm ist der Weg zurück aber auch für die, die sich an den Hinweg kaum noch erinnern können: Tausende bosnische Flüchtlinge brachten ihre kleinen Kinder mit nach Deutschland, die inzwischen zu Jugendlichen herangewachsen sind; tausende Kinder wurden überhaupt erst in Deutschland geboren. Dabei ist die zweite Generation die erste, für die das Leben in Deutschland zur Normalität werden könnte. Die meisten der hier Aufgewachsenen sprechen fließend deutsch, viele haben Universitäten besucht, bei nicht wenigen erinnert nur noch der Nachname an ihre Herkunft.

Doch auch das führt zu Konflikten: Wenn man Marija Mijatovic vom kroatischen Sozialdienst bei der Caritas nach den häufigsten Anfragen fragt, dann kommen gleich nach den Problemen, die das Rentenalter so mit sich bringt, die Auseinandersetzungen mit dem Nachwuchs. Dabei sind die Konflikte nicht immer, aber häufig so klassisch wie im Film: Die Tochter möchte einen Deutschen heiraten, der Vater versucht das zu verhindern. Denn nur solange kein Mann in der Familie aufkreuzt, der die deutsche Sprache besser spricht als er selber, bleibt er der Chef.