Wie Klein Marcel die Sexualität entdeckte

Bei einer Lesung vor Deutschlehrern offenbarte Marcel Reich-Ranicki viel Intimes, anstatt Lesetipps zu geben

Gestern lud die Grunewalder Walther-Rathenau-Oberschule Deutschlehrer aller Berliner Gymnasien zu einer Lesung ein. Stargast in der Aula war der Literaturkritiker Marcel Reich-Ranicki. Das Ganze sei eine „Dienstberatung“, sagte eine Deutschlehrerin. Deswegen müssten die Schüler draußen bleiben und Käsebrote verkaufen – unter einem Schild „Imbiss für ein kulturelles Ereignis: Kür und Pflicht“.

Drinnen winkte Marcel Reich-Ranicki zur Begrüßung mit erhobener Hand gut gelaunt vom Stehpult herunter. Dann las er mit gewohnt gurrender Stimme aus seiner Bestseller-Biografie „Mein Leben“ vor – Plaudereien von seiner Zeit als klassenbester Deutschschüler am Berliner Fichte-Gymnasium. Dort gab es „ordentliche Beamte“, die ihm gleichgültig waren, und „passionierte Pädagogen“, die eigentlich lieber hätten Musiker, Maler oder Schriftsteller werden wollen. Die Zuhörer nickten und lächelten wissend.

Mit zehn Jahren wusste er noch nichts über Sexualität und dachte, Babys kämen aus dem Bauchnabel, kokettierte Reich-Ranicki mit seiner kindlichen Unwissenheit. Mit elf Jahren las er im Mülleimer gefundene Heftchen, aus denen er erfuhr, Onanie führe zu Erblindung und Taubheit. „Verklemmt waren wir alle“, gestand er. Seine Kusine lieh ihm Hermann Hesses „Narziss und Goldmund“, das er „mit roten Backen im Badezimmer“ las. Seither will er wissen, dass sich „Sinn und Ausdruck, Inhalt und Form nicht trennen lassen“. Das gelte in sexueller wie in literarischer Hinsicht. Mehr von Erotik und Literatur erfuhr er später in langen „Balkongespächen“ mit einer hübschen Untermieterin, in die er sich verliebte.

Freilich hat die Welt in letzter Zeit reichlich viel von Reich-Ranickis Auffassungen von Sexualität und Verklemmtheiten gehört. Die mehreren hundert Lehrer dürstete es gestern nach Buchempfehlungen für ihren Deutschunterricht, „in dem Schüler sitzen, die immer weniger lesen“, wie einer klagte. Aber Reich-Ranicki zeigte sich unnachgiebig. „Das muss ein schlechter Lehrer sein“, schimpfte er, „der ,Romeo und Julia‘ nicht spannend für Schüler aufbereiten kann.“ Er schwadronierte lieber weiter über Liebe und Literatur. KIRSTEN KÜPPERS