Ins Bett ohne Madonna

Das neue Madonna-Album ist da, es heißt „Music“. Die gleichnamige Single läuft längst im Radio. Noch ein Top-Ten-Hit, und der US-Star übertrifft die Beatles. Chronik eines angekündigten Hörsturzes

von OLIVER FUCHS

Die neue Madonna-Platte. Vergleichbar nur mit: der neue Grass. Branche aufgeregt, PR-Gewitter. Great Expectations! Wochen vorher schon Getuschel: Meilenstein. Und: Machwerk. Albumtitel dringt durch: „Music“. Klingt nach neuer Bescheidenheit. Oder totaler Anmaßung. Wann schreibt Günter Grass einen Roman, der „Worte“ heißt?

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Am 11. August 2000 bringt die Sängerin Madonna Ciccone in Los Angeles einen gesunden Jungen zur Welt und am 18. September ein neues Album. Die Marketing-Strategie sieht im Vorfeld strikte Produktverknappung vor. Anfrage nach einer Vorab-Kassette bei Warner Music Germany GmbH am 27. August. Auskunft: Strengste Geheimhaltung, Befehl von oben, Befehl aus USA. Kein Ton dieses Albums, so die Verantwortliche, wird vor dem 18. September an irgendwelche Journalisten rausgehen.

Danach überschlagen sich die Nachrichten:

Associated Press, August 29, 12:24: Madonna ready to marry British film director Guy Ritchie.

Associated Press, September 1, 8:47: Madonna denies wedding rumours.

Und September 6, 4:04, dann die Hammermeldung: Madonna says she’s insecure --- „I feel insecure every five minutes“, the 42-year-old pop icon reveals.

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7. September 2000: Im Internet mal wieder ganz andere Zustände. Die Münchner Abendzeitung meldet, dass ein gewisser Andreas aus Amerika im Nachrichtenbereich von madonnaland.com sämtliche neuen Songs zum Runterladen anbietet, „illegal und für lau“. Im Gegenzug müssen die User versichern, alle drei Versionen der Single „Music“ im Laden zu kaufen. „Music“ ist die 33. Top-Ten-Single in Madonnas Karriere. Noch eine und sie ist besser als die Beatles. Noch vier und sie schlägt Elvis.

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14. September 2000, 18.23 Uhr: Fahrt auf der A 8 von München Richtung Stuttgart. Auf Höhe der Ausfahrt Zusmarshausen läuft im Radio vom neuen Madonna-Album der Titel „Amazing“. Voller, organischer Sound. Stimme wie immer. Stimme doch ganz anders? Autofahrmusik.

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14. September 2000, 22.00–23.00 Uhr: Die Platte wird in voller Länge in SWR-3-intensiv vorgestellt. Problem: Verabredung um 22 Uhr. Die Bekannte erzählt, dass der Song „Nobody’s perfect“ sehr schön sein soll. Handelt angeblich von einem Akt der Untreue, Madonna bittet um Verzeihung. Sorry . . . nobody’s perfect. Vorfreude steigt.

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15. September 2000, 9.42 Uhr: Anruf bei Warner Music: Wie kommt’s, dass die Stücke schon im Radio laufen, wo doch topsecret . . . ? Auskunft: Radio ist was anderes. Geheimhaltung gilt nur für Print. Ach so.

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16. September 2000, 10.24 Uhr: Am Bahnhof die Amica gekauft, 13 Seiten Madonna-Interview, viele Info-Kästen. Was hängenbleibt ist, dass Madonna verliebt ist und sich in der neuen Villa in London wohl fühlt. Aber: „Es ist mir noch immer nicht gelungen, mich an das nackte Mädchen auf Seite drei zu gewöhnen . . . Wissen Sie, ich trinke eine Tasse Kaffee und schlage die Zeitung auf und . . . also wirklich, überall springen einem hier Titten ins Auge.“ Fazit: „Mit England verbindet mich so eine Art Hassliebe.“ Das schönste Zitat ist schon ein bisschen älter: „Er ist ein alter Mann, aber er hat einen schönen Schwanz“ (über Warren Beatty). Im Übrigen keine Rede davon, dass sie sich unsicher fühlt, schon gar nicht im Fünf-Minuten-Takt. Auf den Fotos trägt Madonna Mittelscheitel, die Haare sind farblich in etwa so gestaltet wie die „Golden Long“-Pommes von McCain. Sie wirkt trotzdem sehr natürlich.

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16. September 2000, 16.00 Uhr: Ein Freund kommt frisch aus dem Urlaub zu Besuch und stürzt sich auf den Fernseher. Auf Viva läuft das Video zu „Music“, Exposition, Madonna nähert sich einem Taxi, der Fahrer überschlägt sich fast vor Staunen: „Is you Madonna? Your babylons look smaller than on the telly.“ Es ist der in England für seine Wirklichkeits-Interventionen bekannte Komiker Ali G. Es sei doch ziemlich lässig, dass Madonna sich von einem dahergelaufenen englischen Komiker sagen lässt, ihre Titten wirkten in echt kleiner als im Fernsehen, findet der Freund.

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18. September 2000, 3.40 Uhr: Von Madonna geträumt, im Setting des „Music“-Videos. Stretch-Limousine, Nachtclub, G-Strings. „Musiiic, Musiiiiic – makes the bourgeoisie and the rebel.“ Wie bourgeois ist Madonna, und wie rebellisch? Wie viel von „Music“ ist Warnermusic und wie viel Madonnamusic? Und wieso geht einem dieser leitmotivisch eingesetzte Zahnarztbohrer nicht mehr aus dem Kopf? Vorfreude unerträglich.

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18. September, 15:11 Uhr: CD ist erschienen. Gekauft. Sehe mich außerstande, sie zu hören. Stattdessen mit zitternden Fingern Booklet entfaltet. Sehr viel Stroh: Westerngitarre auf Stroh, Madonna mit Cowboyhut auf Stroh. „Braune, mit Strass besetzte Cordhosen“, registriert der Berliner Tagesspiegel und resümiert: „Mehr als ein Abenteuer, eine Party, ein Meisterwerk.“ Seit so viele Mitglieder der Fun-Generation im Feuilleton sitzen, bedeutet „Meisterwerk“ wahrscheinlich die Steigerung von „Party“. Süddeutsche Zeitung reagiert gespalten: „ . . . erwartungsgemäß voller Überraschungen“. Dann dieser Satz: „Die neue Madonna-CD kommt so schlau daher, dass einem schlecht werden könnte.“ Wenn einem nicht schon schlecht ist . . . Schnell noch Die Welt vom Wochenende hervorgekramt: „ ‚Music‘ ist ihr achtes und bestimmt kein schlechtes Album.“ Ins Bett, ohne Madonna gehört zu haben. Vorfreude ist die schönste Freude.

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20. September, 13:58 Uhr: taz ruft an. Wo bleibt denn der Text? Und bitte auch was über die Music schreiben. Frankfurter Rundschau meint: „  ‚Music‘ ist Musik für die Bourgeoisie, und die will nicht rebellieren, sondern sich an gut durchdachten Songs erfreuen.“ Auf diese kritische Stimme ist Verlass!

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21. September, 9:40: CD gehört. Völlig mit den Nerven runter. Erster Eindruck: viele gute Ideen. Viele verdammt einleuchtende Ideen. Warum ist da vorher noch niemand drauf gekommen? Weil die Ideen zwar so einfach sind, dass sie sofort einleuchten, dann aber wieder so gut sind, dass halt vorher noch niemand drauf gekommen ist.

Jetzt schnell noch eine Haltung entwickeln. Meisterwerk: Und wie! Machwerk: Aber hallo! These 1: Madonnas französischste Platte. Der Anfang wie Daft Punk, das Ende wie Air. Oder umgekehrt. Wieder Zusammenarbeit mit William Orbit, dem Produzenten des vorigen Luftpop-Albums „Light Of Ray“ . . . Coming-out als Temperament . . . mit Brigitte Bardot . . . je nachdem . . . Glamour . . . und überhaupt . . . Music . . . Music . . .