Der Wächter der grünen Hölle

Klaus Nehmzow wollte aus der DDR ausreisen – und landete auf Görmitz. Nun ist er der einzige Bewohner der Insel – und das will er auch bleiben

aus Görmitz HEIKE HAARHOFF

Niemand verirrt sich freiwillig hierher. Die Schotterstraße ist holprig, das Schilf meterhoch, und die Mücken sind so anhänglich wie Hundewelpen, die man zwei Tage zu füttern vergessen hat. Die Angler an der Weggabelung grüßen freundlich. Hinter ihnen weist ein Holzschild rechts nach Möwenort und links, vor Verwitterung kaum noch lesbar, zur Halbinsel Görmitz, genauer gesagt: in eine Wildnis aus Gestrüpp, Pfützen, Laubwald, Seeadlerhorsten, Morast, Kuhweiden, Gräben, Kormoranen und Pfaden aus rissigen Betonplatten, die einst auch für normale Pkws befahrbar gewesen sein müssen. Nach der mondänen Seebrücke von Ahlbeck, den eingezäunten Dünen von Bansin und den nummerierten Strandkörben von Ückeritz ist dies ein überraschendes Ende von Usedom.

Er werde mit allen Mitteln kämpfen, hier bleiben zu können, „die Insel bedeutet alles für mich“, hatte Klaus Nehmzow am Telefon gesagt. Obwohl es ihm mitunter wirklich dreckig gehe. Die Medikamente, mit denen er den Krebs in seinem Körper besiegt hat, sind noch nicht abgesetzt. Unter Stress ist es, als verdreifachten sie ihre Nebenwirkungen. Und Stress gibt es dieser Tage nicht zu knapp: Görmitz, 140 Hektar grüne Hölle in Halbinsellage im Achterwasser von Usedom, steht für sechs Millionen Mark zum Verkauf. Görmitz, nach dem Krieg zunächst Zuchtstation für Rinder, ab den 70er-Jahren DDR-Kinderferienlager, seit der Wende verlassenes Eiland im Besitz der Siemens AG mit unvergleichlichem Freizeitwert für Pflanzenkundler und Vogelbeobachter, würde dann womöglich nicht mehr öffentlich zugänglich sein, geschweige denn Wohnsitz des einzigen Einwohners Klaus Nehmzow bleiben. Der sagt: „Das geht nicht.“

Das geht sehr wohl, entgegnet der Siemens-Konzern: „Für uns“, sagt eine Firmensprecherin, „ist Görmitz totes Kapital“. Kurz nach der Wende habe Siemens das DDR-Kombinat „Nachrichtenelektronik Greifswald“ übernehmen wollen. Siemens wollte. Mehr nicht.

Die Halbinsel Görmitz, auf der der Nachwuchs der verdienstvollen Kombinats-Werktätigen aus Greifswald jahrelang seine Sommer- und Winterferien verbracht hatte, gehöre zum Werk und müsse daher der Münchner Siemens AG zugeschlagen werden, entschied die Treuhand damals – wider die Rechtslage (siehe Kasten) und wider den Willen der Gemeinde Lütow. Die hätte sich durchaus zugetraut, über die Zukunft von Görmitz zu bestimmen.

Nicht mehr im Portfolio

Heute sagt die Siemens-Sprecherin: „Die Insel passt nicht in unser Portfolio.“ Eine Hotelanlage, eine natodrahtumzäunte Privatinsel für Prominente, ein Golfplatz, alles sei denkbar – Hauptsache, es findet sich ein Käufer.

Was in das Portfolio von Usedom, von der Gemeinde Lütow und von Klaus Nehmzow passt, ist eine Frage, die in München weniger interessiert.

Der Pfad endet vor einem rostigen, weit geöffneten Tor. Darin steht leider nicht Klaus Nehmzow, sondern seine „Doberfrau“, knurrend, bellend, Zähne zeigend. Herrchen ist immer und unmittelbar informiert über Besuch, was umgekehrt keineswegs heißt, dass auch der Besuch Herrchen sofort findet: sieben Häuser und zwölf Bungalows stehen in aufgelockerter Bauweise im wadenhohen Gras, ein Gebäude verfallener als das andere, aber fast alle mit Resten von einst weißen Gardinen in den Fenstern. Drumherum Heuballen, ein altes Indianerzelt, Baufahrzeuge. Vor dem einzigen Haus mit gemähter Wiese und Blumenbeeten im Garten macht die Doberfrau schließlich Halt.

Klaus Nehmzow trägt Bart, Brille, kariertes Hemd und Jeans und sieht auch sonst nicht aus wie ein gestrandeter 48-Jähriger. Trotzdem kein Foto von ihm, bitte, es hat schon so viel Ärger gegeben um die Insel und ihn. Die Insel und er, das ist eine Geschichte von gescheiterten Berufsträumen, von DDR-Willkür, Aufbegehren, Krankheit und schließlich vom Gegenteil dessen, was die Zwangsversetzung ursprünglich erreichen sollte: Klaus Nehmzow hat seinen Frieden mit Görmitz gemacht, oder, um es mit seinen Worten zu sagen: „Die Insel und ich sind miteinander verwachsen.“

Er sitzt jetzt auf seiner Couch, und über ihm an der Wand hängen Bilder, Stilleben mit Segelboot, nackte Frau in Öl, Maria mit Jesus im Arm, alles Unikate, alles selbst gemalt. „Ich wollte immer Restaurator werden“, sagt Klaus Nehmzow. Aber einer, der Widerworte gibt und auf die sozialistischen Bruderländer pfeift und noch heute die US-amerikanische Fahne durch sein Wohnzimmer flattern lässt, wird nicht Restaurator. So einer lernt Koch, steigt schließlich zum Küchenleiter einer staatlichen HO-Gaststätte auf, ist weiterhin unglücklich und stellt Mitte der 80er-Jahre einen Ausreiseantrag. Sein Undank hat eine Konsequenz: Statt in die Bundesrepublik Deutschland eine Fahrkarte nach Görmitz.

„Niemand wollte da hin, das war doch allen viel zu einsam“, sagt Klaus Nehmzow. Er dagegen fühlte sich wider Erwarten auf Anhieb wohl. In Spitzenzeiten für 275 Kinder und bis zu 60 Urlauber aus der befreundeten Tschechoslowakei, Polen oder Syrien zu kochen, Frauentage, Brigadefeste und Weihnachtsempfänge auszurichten, das gefiel Klaus Nehmzow gut. Und dann das Meer, die Vögel, der üppige Wildwuchs. „Hier wusstest du wenigstens, dass dich niemand stören kommt.“

1990 führt er sein letztes Ferienlager durch; nach dem Aus für das Nachrichtenelektronik-Kombinat gibt es auch keine Kinderfreizeiten mehr. Es wäre jetzt möglich, den lange gehegten Wunsch in die Tat umzusetzen, in den Westen zu ziehen. Doch Klaus Nehmzow bleibt, warum die Dinge übereilen, er sucht sich einen Job im sechs Kilometer entfernten Zinnowitz, handelt mit der Siemens AG als neuer Inselbesitzerin aus, dass er und zuweilen auch sein Cousin mietfrei in einem der Häuser weiterhin leben können. Schließlich hat ein bewohntes Gebäude den Vorteil, dass es nicht so schnell besetzt wird. Irgendwann ist es zu spät für einen Umzug. Die Ärzte diagnostizieren Krebs.

„Wenn ich die sechs Millionen hätte, ich würde die Insel sofort kaufen.“ Hiltraud Wessel im benachbarten Lütow, dem Verwaltungssitz der Ortsteile Lütow, Neuendorf, Netzelkow und Görmitz, ist voller Zorn. Denn längst, sagt die Bürgermeisterin, gehe es ja nicht mehr nur darum, „was aus dem Herrn Nehmzow wird“, sondern „wie mit uns umgegangen wird“. Bereits 1990 habe die Gemeinde einen Antrag gestellt, man möge ihr, und nicht einem westdeutschen Privatkonzern, die Halbinsel überlassen. Vergeblich. Die Treuhand schreckte nicht einmal davor zurück, Filetgrundstücke zu Spottpreisen an Private zu verscherbeln.

Gemeinde ist außen vor

„Wir als Gemeinde“, sagt Hiltraud Wessel, „sind jetzt richtig außen vor“. Zwar durften die Gemeindevertreter unlängst noch bestimmen, dass auf Görmitz weder Gewerbe noch Industrie angesiedelt werden sollen. „Aber wenn jemand die Insel für seine Privatzwecke einzäunen oder eine Feriensiedlung bauen will, dann können wir das nur schlecht verhindern.“ Und das, obwohl die 400-Einwohner-Gemeinde bereits „eine Massenbebauung hat, mit der wir unglücklich sind, weil im Winter kein Mensch drin ist und ständig eingebrochen wird“. Obwohl das Land Mecklenburg-Vorpommern die Halbinsel noch in diesem Herbst unter Naturschutz stellen will. Für bereits bebaute Flächen wie die Grundstücke des ehemaligen Ferienlagers wird das Schutzgebot nicht gelten.

Bauen, auf Görmitz! So weit, sagt Klaus Nehmzow, grinst und streichelt seine Doberfrau, werde es auch nicht kommen. Als zuletzt ein Kaufinteressent auf Görmitz auftauchte, fand man anschließend nahe des Damms, der Görmitz mit Usedom verbindet, ein Auto mit fremdem Kennzeichen und zerstochenen Reifen. Kurze Zeit darauf ging ein zweiter Wagen, den man bislang ebenfalls noch nicht auf der Insel gesehen hatte, in Flammen auf. Damals, sagt Klaus Nehmzow, sei dann im Nachhinein herausgekommen, dass es sich um Verwechslungen gehandelt habe.

Damals.