400 Meter Traumpfad

Cathy Freeman, gebürtige Aborigine, ist die Heldin des modernen Australien. Mit einer Goldmedaille soll sie das Land begeistern – und den Ureinwohnern des Kontinents zu mehr Selbstbewusstsein verhelfen

von MATTI LIESKE

Cathy Freeman stammt aus der Welt der Traumpfade und Songlinien, und manchmal bricht sich der kontemplative Geist der alten Aborigineskultur sogar in einer simplen Pressekonferenz Bahn. So zum Beispiel nach ihrem Sieg über 400 Meter im letzten Jahr bei der Weltmeisterschaft in Sevilla.

Es ist schwer“, sagte sie da plötzlich fast andächtig, „in dieser Welt der Leichtathletik dieselbe Person zu sein, die du vorher warst.“ Auf der anderen Seite ist die 27-jährige Australierin so gut in der materiellen Welt des Spitzensports angekommen, dass sie kurz darauf mit breitem Lächeln den Kopf schüttelte und sich selbst eine Rüge erteilte: „Zu poetisch!“

Lange hatte sich Cathy Freeman gegen den Wandel gewehrt, den der sportliche Erfolg mit sich brachte. „Ich will nicht reich sein“, beteuerte sie, als sie es längst schon war. „Ich mag es nicht, wenn ich angeschaut werde“, klagte sie, als sie längst im Rampenlicht stand. „Ich will keine Berühmtheit sein“, beharrte sie noch nach der Silbermedaille von Atlanta 1996, wo sie mit ihrer knappen Niederlage gegen die Französin Marie-José Perec den Sprung in den kleinen Kreis der Leichtathletikweltstars geschafft hatte.

Empfänge bei Lady Diana und Hillary Clinton lehnte sie ab: „Wenn ich sie treffe, soll es unter natürlichen Umständen sein.“ Lange Zeit bestand sie darauf, außerhalb ihres Trainings in Melbourne bei der Post zu arbeiten, um die nötige „Bodenhaftung“ zu behalten. Und wenn sie das Gefühl hatte, dass ihr die ganze Sache über den Kopf wuchs, begab sie sich zurück zu ihren Wurzeln. „Ich war immer familienorientiert“, erklärt sie, und wenn sie mal begann, „sich wie ein verzogenes Kind zu benehmen“, nahm ihre Mutter, die als Sozialarbeiterin tätig ist, sie einfach mit in die Elendsviertel der Aborigines und zeigte ihr „richtige Probleme“. Lektion gelernt: „Ich habe so ein Glück. Ich brauche nur zu laufen.“

Wenn sie dies am Montag im olympischen Finale über 400 Meter tut, wird zumindest in Australien alles den Atem anhalten. Freemans Duell mit Marie-José Perec, ihrer Bezwingerin von 1996, deren Fehlen 1997 in Athen und 1999 in Sevilla der einzige Makel bei Freemans Weltmeisterschaftsgewinnen war, ist für die Australier der Höhepunkt der Spiele; die Karten für diesen Tag waren im Handumdrehen ausverkauft.

Seit Cathy Freeman, als eines von fünf Kindern in einem ärmlichen Viertel von Mackay an der Küste Queenslands aufgewachsen, 1994 bei den Commonwealth-Spielen mit einem politischen Knalleffekt ins Bewusstein der Australier platzte, hat sie sich nicht nur zur bekanntesten, sondern auch zur beliebtesten Sportlerin des Landes entwickelt, auch wenn sie in konservativen Kreisen nach wie vor angefeindet wird.

Anders als die berühmte Tennisspielerin Evonne Goolagong in den Siebzigerjahren, die ihre Aboriginesherkunft nicht verleugnete, aber auch kaum erwähnte, machte Cathy Freeman nie einen Hehl aus ihrem Stolz auf ihr Volk. Als sie 21-jährig den 400-Meter-Titel bei den Commonwealth-Spielen in Kanada gewonnen hatte, schnappte sie sich kurzerhand die schwarzgelbrote Fahne der Aborigines und trug sie neben der australischen bei der Ehrenrunde durch das Stadion. „Ich wollte zeigen, wer ich bin und wo ich herkomme“, sagte sie später, doch die persönlich gemeinte Geste wurde in Australien als handfeste politische Demonstration verstanden.

Delegationsleiter Arthur Tunstall spuckte Gift und Galle, erteilte ihr einen Verweis und den klaren Befehl, ähnliche Aktionen künftig zu unterlassen. Nur um die Läuferin wenige Tage später nach ihrem 200-Meter-Triumph erneut mit beiden Flaggen um die Bahn hüpfen zu sehen. Es folgten heftige Diskussionen über den Fall Freeman, der mit den Black-Panther-Fäusten schwarzer US-Athleten bei den Spielen in Mexiko 1968 verglichen wurde. Umfragen ergaben, dass der überwiegende Teil der australischen Bevölkerung auf der Seite der Athletin stand. Selbst Tunstall lenkte schließlich ein und trat Jahre später mit Freeman sogar in einem Werbespot auf, in dem beide zusammen Kaffee trinken. „Magst du ihn weiß?“, fragt sie den Sportfunktionär. Der entgegnet: „Ach nein, schwarz ist schon in Ordnung für mich.“

Das resolute Bekenntnis zu ihrer Herkunft ließ Freeman zum Symbol für die Sache der Aborigines und zugleich zum Spielball widerstreitender Interessen werden, auch was Olympia in Sydney betrifft. Radikale Aboriginesgruppen verlangten, sie solle sich ihren Boykottaufrufen anschließen, gemäßigtere Organisationen hoffen, ein Olympiasieg von ihr werde das Selbstbewusstsein der Aborigines stärken.

Weiße Rassisten verwahrten sich wiederum in einer Flut von E-Mails an das australische Olympische Komitee – wie inzwischen bekannt vergebens – gegen den Vorschlag, Freeman solle beim Einmarsch die Fahne des Landes zu tragen. Ein schwieriger Spagat für die Sportlerin, die sich den Kontroversen in den letzten Monaten entzog, indem sie erst bei Trainerguru John Smith in Los Angeles trainierte und dann in London, wo sie ein Haus besitzt. „Ich repräsentiere die Tatsache, dass es für ein Individuum der Urbevölkerung keinen Grund gibt, nicht wie jeder andere hinauszugehen, Ziele zu erreichen und Träume zu verwirklichen“, ist sich Cathy Freeman ihrer Bedeutung für die Aboriginesjugend bewusst, enthielt sich aber ansonsten stets politischer Stellungnahmen in dieser Angelegenheit.

Eine Handlungsweise, die vor allem auf ihren ehemaligen Lebensgefährten und Manager Nick Bideau zurückgeht. Schon mit sechzehn hatte sie den Sohn eines sardischen Kochs kennengelernt, der damals als Sportreporter bei The Herald Sun in Melbourne arbeitete und schon Beziehungen mit den Athletinnen Jenny Talbot und Lisa Ondieki hinter sich hatte. Sechs Jahre lang verwaltete der dreizehn Jahre Ältere alle Aspekte des Daseins von Cathy Freeman und baute auf der Basis ihrer Erfolge die ihm hälftig gehörende Firma „Catherine Freeman Enterprises“ sowie seine Managementagentur auf – eine Organisation, deren Verquickung mit Offiziellen des australischen Leichtathletikverbandes Bideau & Co. ihr bald den Titel „Melbourne-Mafia“ einbrachte.

So soll Bideaus Agentur dafür gesorgt haben, dass die ehemalige Hockey-Goldmedaillen-Gewinnerin und jetzige 400-Meter-Läuferin Nova Peris-Kneebone nicht mehr ins australische Team berufen wurde. Die Athletin, ebenfalls eine Aborigine, hatte sich mit Freeman angefreundet und drohte die Isolation aufzubrechen, in der Bideau Freeman hielt. Peris-Kneebone klagte ihr Startrecht aber ein.

Die Liebesbeziehung zwischen Bideau und Freeman ging 1996 zu Bruch, als sie herausfand, dass er eine Affäre mit der irischen Langstreckenläuferin Sonia O’Sullivan hatte, doch Verträge banden sie weiter an ihn. Die Situation eskalierte, als Cathy Freeman im vorigen Jahr den Nike-Direktor Alexander Bodecker heiratete und sich zunehmend dem Einfluss Bideaus entzog. Bei der WM in Sevilla teilte Bodecker, der sich inzwischen von der Firma beurlauben ließ, um seine Gattin bei der Olympiavorbereitung zu unterstützen, dem Manager in deutlichen Worten mit, dass er sich aus dem Privatleben der Athletin heraushalten solle.

Doch erst im Mai 2000 wurde Bideau endgültig gefeuert. Er reagierte mit einer Klage wegen Vertragsbruchs, da ihm bis Ende 2000 fünfzig Prozent des Einkommens von Freeman zustünden; es folgte – mitten in der wichtigsten Phase der Olympiavorbereitung – eine Schlammschlacht in den australischen Medien. Bideau zog ungehemmt über seine ehemalige Arbeitgeberin her und wurde schnell zum meistgehassten Mann des Landes. Sollte Freeman in Sydney verlieren, bliebe ihm wohl nur übrig, nach Neuseeland zu ziehen, heißt es in Australien.

Nach der Trennung von Bideau ließ sich Cathy Freeman den Schriftzug „Cos I’m free“ auf den Oberarm tätowieren, eine Freiheit, die sie zuvor vor allem beim Laufen empfunden hatte. „Es ist die perfekte Art, mich auszudrücken“, sagte sie einmal, „ich fühle mich dann so stark, so stark.“ Nun nahm sie ihr Leben auch außerhalb des Stadions in die Hand und versuchte, die tendenziell rassistische Mär von der unselbstständigen, lebensuntüchtigen Frau, die Bideaus Agentur verbreitet, zu widerlegen. „Ich habe immer gewusst, was ich in meinem Leben will“, sagt sie, „wenn ich Selbstvertrauen auf der Bahn haben soll, muss ich ja wohl auch ein bisschen Selbstvertrauen in anderen Bereichen meines Lebens haben.“

Zur neuen Freiheit gehört, dass sie ihre Funktion als berühmtes role model inzwischen akzeptiert und kürzlich erstmals offen politische Stellung bezog. In scharfer Form meldete sich Cathy Freeman in der „Sorry“-Debatte zu Wort. Als „unsensibel und unehrlich“ kritisierte sie Premierminister John Howard, weil sich dieser nicht bei den Aborigines für die Verschleppung ihrer Kinder in den Fünfziger- und Sechzigerjahren entschuldigen will und seine Regierung die Existenz dieser „gestohlenen Generation“, zu der auch Freemans Großmutter gehörte, bestreitet.

Das Echo war gewaltig. „Sie hat dafür gesorgt, dass Mainstream-Australien gemerkt hat, dass dieses Leiden, der Schmerz und die Verletztheit keine Sachen der dunklen, fernen Vergangenheit sind“, lobte Sir Gustav Nossal, Vorsitzender des Versöhnungsrates. Kein Zweifel, Cathy Freemans Stimme findet Gehör in Australien. Inzwischen hält sie es sogar für möglich, eines Tages, wenn sie ihre ganze Energie darauf richten kann, zu versuchen, „die politische Situation zu Hause zu ändern“.

Vorher hat sie jedoch noch etwas Wichtiges zur erledigen. „Ich rieche die Rosen schon ein bisschen“, sagte sie kürzlich über ihren angestrebten Olympiasieg, „aber ich werde sie wohl erst richtig riechen, wenn ich in die Arme meiner geliebten Mutter falle und mir die Augen ausheule.“ Zu poetisch?

MATTI LIESKE, 48, ist seit Mitte der Achtzigerjahre taz-Leibesübungsredakteur. Er berichtet noch bis Ende kommender Woche regelmäßig für die taz aus Sydney.