Ins Leben gleiten

Lavendelduft, Morgenmuffeltee, Bachblüten: Im Geburtshaus werden Frauen nicht „entbunden“, sie „gebären“ selbstbestimmt  ■ Von Sandra Wilsdorf

Es riecht nach Lavendel statt nach Desinfektionsmittel. Durch die großen, efeuumrankten Fenster fällt Sonnenlicht, auf einem Tablett stehen Zitronengras- und Morgenmuffeltee. Zu hören sind die Schreie einer Frau. Undefinierbare Schreie. Es klingt nicht nach Angst, nicht schrill, sondern tief und gleichmäßig, als würde sie laut und lange ausatmen. Es klingt ein biss-chen nach Sport, ist aber eine Geburt. Während im Krankenhaus die Nebengeräusche immer lauter sind als die Frauen, ist es hier so ruhig, dass niemand die Schreie überhören kann. Das macht auch nichts, sie gehören hierher. Denn im Geburtshaus in Ottensen ist alles auf Gebären ausgerichtet.

An den Wänden hängen Bilder und Fotos von den Hebammen und von vergangenen Festen, Landschaften in Aquarell und eine große Schwarzweißaufnahme von einem riesigen Bauch und ganz kleinen Füßen. Die Wände sind gelb gestrichen, die Füße, die ihre Schuhe vor der Tür lassen müssen, laufen über Teppich oder Holz.

Hierher kommen Frauen, denen Krankenhäuser zu anonym, zu kalt oder zu bestimmend sind. Hier können sie nach ihrem eigenen Rhythmus und nach dem des Kindes gebären. „Die Frauen bekommen ihr Kind bei uns aus eigener Kraft“, sagt Petra Unger, eine der zehn Hebammen, die im Geburtshaus arbeiten. Wenn eine Geburt für ein bis zwei Stunden Pause mache, dann sei das eben so: „Einen Wehentropf haben wir nicht.“ Wenn das Kind nicht weiter will, setzen die Hebammen beispielsweise Akupunktur, Bachblüten oder homöopathische Mittel ein. Erst wenn die Pause zu lange werde, komme eine Verlegung ins Krankenhaus in Frage.

Überhaupt gebe es Situationen, in denen das ratsam sei, beispielsweise bei einem vorzeitigen Blasensprung. Frauen, bei denen vorher abzusehen ist, dass ärztliche Betreuung nötig werden könnte, werden im Geburtshaus gar nicht erst angenommen. „Beispielsweise wenn die Geburt davor ein Kaiserschnitt war oder es Komplikationen wie Schwangerschaftsdiabetis gibt oder das Kind falsch liegt.“ Denn im Geburtshaus arbeitet kein Arzt. Aber 75 Prozent aller Kinder die hier geboren werden sollen, kommen auch hier zur Welt.

Wer sich für eine Geburt im Geburtshaus entscheidet, baut schon vorher intensiven Kontakt zu den Hebammen auf. „Das Geburtshaus soll ein Ort sein, an dem Frauen in geborgener Atmosphäre ihre Kinder bekommen können“, sagt Petra Unger. Deshalb beginne die Rundum-Betreuung von Paar oder Frau schon während der Schwangerschaft: Mit Vorsorgeuntersuchungen, Hilfe bei Beschwerden wie niedrigem Eisenwert, juckender Bauchhaut oder Krampfadern und Kursen zur Geburtsvorbereitung oder in Yoga und Bauchtanz für Schwangere sowie für Elternsein und Babypflege.

Die Hebammen sind in zwei Teams aufgeteilt, von denen jeweils eines rund um die Uhr Dienst hat. So ist es wahrscheinlich, dass die Frau bei der Geburt von jemandem betreut wird, den sie kennt. Etwa vier Stunden nach der Geburt können die Eltern mit ihrem Kind wieder nach Hause gehen. Die Hebamme kommt während der ersten Wochen ein- bis zweimal pro Tag vorbei. „Wir garatieren individuelle Betreuung, eine Hebamme betreut nur eine Frau“, sagt Unger.

Auch für die Zeit nach der Geburt gibt es Angebote, übrigens auch für Frauen, die ihr Kind nicht hier geboren haben: Rückbildungsgymnastik oder Babymassage, Still- und Babytreff.

Das Schreien der Frau hat aufgehört, stattdessen schreit jetzt ein Baby. Auf dem Sofa im Vorraum sitzt schon das nächste Paar, allerdings nur zur Untersuchung. „Wir sind eine knappe Woche überfällig“, sagt Martje Brockmann. Sie und ihr Freund Christian Seemann haben sich dafür entschieden, ihr Kind hier auf die Welt zu bringen „wegen der Atmosphäre“, sagt er. Sie ergänzt: „Ich habe mal Praktikum in einem Krankenhaus gemacht, und es hat mir nicht gefallen, wie die Ärzte mit den Frauen ungegangen sind, die haben die gar nicht richtig ernst genommen“. Die Frauen seien ihr ausgeliefert vorgekommen.

Im Geburtshaus sind sie selber aktiv, deshalb spricht hier auch niemand von „entbinden“, sondern von gebären. Wo die Frau das macht, ist ihr überlassen. Es gibt ein breites Bett, eine Matratze davor, Schlaufen von der Decke, in die sie sich hängen kann, und es gibt das Badezimmer. Es riecht nach Badeöl, an der Decke hängt ein Mobilé, die riesige Badewanne ist mit einem gelb-ocker-braunen Mosaik verziert. „Das hat uns eine Künstlerin geschenkt, die ihr Kind hier bekommen hat“, sagt Petra Unger. Überall stehen Kerzenleuchter.

Das Geburtshaus wird von einem selbstverwalteten Verein betrieben, in dem auch die Hebammen Mitglied sind. Die werdenden Eltern lassen sich die besondere Atmos-phäre etwas kosten: Bisher hat nur die BKK Securvita mit dem Geburtshaus einen Vetrag geschlossen, in dem sie sich verpflichtet, zu den Kosten für die Hebamme auch 800 der 1200 Mark Betriebskosten zu übernehmen, die pro Frau anfallen. Die anderen Kassen entscheiden das von Fall zu Fall.

Wer sich über das Geburtshaus informieren will, kann das unter 390 11 28 tun oder zu einem der Informationsabende gehen, die zwei Mal im Monat stattfinden.