Ein Pionier in der Karibik

Arturo Kirchheimer flüchtete als Jude vor den Nazis und fand ein neues Domizil in derDominikanischen Republik. Er gilt als einer der Väter des boomenden Tourismus auf der Karibikinsel

Der Diktator Trujillo hat sehr viel Schlechtes gemacht, aber auch etwas Gutes

von THOMAS PAMPUCH

Sosúa hat derzeit eine ziemlich schlechte Presse. Gilt die „DomRep“ ohnehin bei manchen als „Abzockerinsel“, so wird Sosúa als der Sündenpfuhl schlechthin gehandelt. TV-Sendungen reihen genüsslich Horrorstorys mit besoffenen oder geprellten Touristen und fiesen Einheimischen aneinander und präsentieren dabei eine Mischung aus Volksverhetzung und Volksverleumdung. Sicherlich, am hübschen Strand von Sosúa gibt es ein „Ballermann 4“, es gibt „Harrys Kampftrinkerbar“ und nächtens sieht man auf der Hauptstraße viel rotes Licht. El Batey, der touristische Teil des Ortes, mag manchen als Rummel- oder gar Rammelplatz erscheinen. Nur, wer käme auf die Idee, Hamburg mit Sankt Pauli gleichzusetzen?

Auch in Sosúa kann man abseits der Kneipenstraßen Ruhe finden. Etwa in dem hübschen Häuschen, in dem Arturo Kirchheimer – nur drei Minuten entfernt vom dem Trubel – seit Jahrzehnten wohnt. Kirchheimer, vor 91 Jahren in Hamm geboren und in Hamburg groß geworden, kam 1941 auf die Karibikinsel. Er ist einer der letzten Zeitzeugen für eine fast vergessenen Episode der Nazizeit. Seine Rettung vor Hitler verdankt Kirchheimer einem anderen Diktator: Rafael Leonidas Trujillo, der die Dominikanische Republik von 1930 bis zu seiner Ermordung 1961 mit blutiger Repression regierte. Dieser war zwar selbst von dunkler Hautfarbe (wogegen er Zeit seines Lebens mit allerlei Salben ankämpfte), doch er träumte immer von einer weißen Rasse auf seiner Insel.

Auf einer von Franklin D. Roosevelt 1938 in Evian einberufenen Konferenz war die Dominikanische Republik als einziges Land der Welt bereit, 100.000 jüdische Flüchtlinge aufzunehmen. Ironie der Geschichte: Das Hauptmotiv des Diktators, der kurz zuvor in einem Massaker an die 20.000 schwarze Haitianer abschlachten ließ, war der Wunsch, seine vorwiegend dunkle Bevölkerung mit den neuen Siedlern „aufzuhellen“. Nur 10 Prozent der Flüchtlinge durften verheiratet sein. Trujillo selbst verkaufte dem American Jewish Joint Distribution Committee („Joint“), das sich um die Organisation der Flucht kümmerte, das Siedlungsgebiet in Sosúa – mit schönem Gewinn.

Nur etwa 850 jüdische Flüchtlinge haben es wirklich bis in die Dominikanische Republik geschafft. Um uns die Geschichte der Flucht genauer zu beschreiben, führt uns Kirchheimer zu der 1941 gegründeten Synagoge an der Calle Alejo Martínez, neben der ein Museum eingerichtet ist. Er zeigt Bilder von der „Mouzinho“, dem portugiesischen Schiff, mit dem er, seine (inzwischen verstorbene) Frau und seine Tochter in die Karibik kamen.

Seit 1937 war der ehemalige Modeberater des Kaufhauses Hermann Tietz in Hamburg auf der Flucht. Bis 1940 arbeitete er bei einem Bauern in Luxemburg. Als das Land von den Deutschen besetzt wird, gelingt es ihm, für sich und seine Familie ein Visum für Kuba zu ergattern. Von der Gestapo begleitet, gelangt er mit 300 Schicksalsgenossen nach Lissabon, doch die Portugiesen lassen die Gruppe nicht ausreisen. Sieben Monate verbringen die Kirchheimers in einem Lager in Bayonne, bis schließlich Vertreter des „Joint“ das Lager besuchen. 51 „fähige und gesunde Menschen“ werden für „eine landwirtschaftliche Kolonie in Sosúa“ ausgesucht und mit dem Schiff auf die Insel gebracht. Unter den rund 600 Flüchtlingen, die von 1939 bis 1941 in die Kolonie kamen, befanden sich nur fünf unverheiratete Frauen. „Die waren natürlich sehr schnell vergriffen“, berichtet der ehemalige Kaufhausangestellte trocken.

Sosúa war in dieser Zeit nicht viel mehr als ein verlassenes Camp. Von 1904 bis 1916 hatte die United Fruit Company dort Bananen angebaut, sich aber dann zurückgezogen, weil der Boden dafür nicht geeignet war. „Wir haben deshalb – 24 Jahre später – hier einen vollkommenen Urwald vorgefunden. Den mussten wir erst einmal roden, um das Land fruchtbar zu machen. Das war keine Kleinigkeit“, erinnert sich Kirchheimer. Moskitos und Malaria setzten den Siedlern in den ersten Jahren schlimm zu. Einige der Pioniere verlieren ihr Leben. Andere wandern in die USA aus.

Am Anfang leben die Ankömmlinge zunächst in den verlassenen Baracken der United Fruit. Doch bald errichten sie eigene Häuser und beginnen mit Gemüseanbau zur Selbstversorgung. Von der vom „Joint“ gegründeten Dominican Republic Settlement Association bekommen die Siedler pro Person neun Kühe. Sie gründen eine Molkerei und legen damit den Grundstein für eine Milch- und Käseindustrie. Mit dem Wachsen der Weidewirtschaft kommt bald auch eine Fleisch- und Wurstproduktion dazu.

Bald stellen die Siedler auch einheimische Arbeitskräfte ein. „Die waren in einem sehr kläglichen Zustand, hatten oft keinen Hemden und Schuhe und waren fast alle Analphabeten. Wir haben ihnen Kleider und Schuhe geschenkt, und sie haben bei uns für einen höheren Lohn gearbeitet, als sie ihn früher bekommen haben.“

Auch engere Kontakte kamen bald zustande. Die vielen Junggesellen fanden Gefallen an den hübschen Dominikanerinnen. „Das sind die Nachkommen der Sosúa-Kolonie“, sagt Kirchheimer, als er uns die Fotos vom ersten Kindergarten in Sosúa zeigt, der bereits 1942 eingerichtet wurde. Die Jüdische Gemeinde von Sosúa ist schnell bunt gemischt. Auch Don Arturo hat inzwischen einige hübsche braune Enkelkinder – von seinem Sohn René, der 1942 geboren wurde. René lebt mit seiner dominikanischen Frau und seinen Kindern im Nebenhaus. Er arbeitet im Tourismus und ist außerdem Musiker.

Die ursprünglichen Kooperativ-Ideen der Flüchtlinge haben die Jahre nicht überstanden. Aus der Molkerei-Genossenschaft wird eine GmbH, später, nach dem Tod Trujillos, eine Aktiengesellschaft. Die Kibbuz-ähnliche Siedlung der ersten Zeit wandelte sich schrittweise zu einem Agro-Unternehmen, deren „Productos de Sosúa“ bald die halbe Insel mit Emmentaler, Butter und Wurst versorgen. Arturo Kirchheimer wird ein erfolgreicher Rinderzüchter, der eine Reihe von Preisen einheimst. Einen davon überreicht ihm sogar der langjährige Präsident und Trujillo-Nachfolger Joaquín Balaguer – auch er nicht gerade ein Musterdemokrat. Dennoch steht das Bild mit dem Präsidenten auf Kirchheimers Vertiko.

Politik hat Arturo Kirchheimer nie besonders interessiert. „Ich bin hauptsächlich ein Geschäftsmann gewesen. Und ein Geschäftsmann soll sich nicht binden, er dient allen.“ Seine Einschätzung Trujillos ist logischerweise zwiespältig: „Der Diktator hat sehr viel Schlechtes gemacht, aber in unserem Fall hat er auch etwas Gutes. Dass er uns hier hat herkommen lassen, ist für uns die Rettung gewesen, und ich bin dem Land dankbar gewesen.“

Praktische Politik aber hat der lebenslustige und fleißige Pionier immer betrieben – und dafür 1983 sogar das Bundesverdienstkreuz bekommen. 43 Jahre lang war er deutscher Honorarkonsul in Sosúa. Er half mit, dass die Siedler, die 1952 dominikanische Staatsbürger wurden, in der Adenauerzeit auch wieder deutsche Pässe und die ihnen zustehende Rente erhielten. Auch eine deutsch-jüdische Kulturarbeit entwickelte er mit. In den ersten Jahren, lange bevor Sosúa zu einem Touristenzentrum wird, zeigte die Jüdische Gemeinde zweimal in der Woche Filme, es gibt Vorträge und Konzerte. Das alles ist lange her. Viele der jüdischen Emigranten haben im Laufe der Jahre die Dominikanische Republik wieder verlassen – auch Kirchheimers Tochter lebt heute in Florida. Doch die wenigen Familien, die geblieben sind, prägen Sosúa bis heute mit. Und nicht nur, weil es die Synagoge oder eine Calle David Stern gibt. Nirgendwo auf der Insel bekommt man so gutes Brot und so guten deutschen Kuchen wie in der jüdischen Bäckerei im Ort. Aber nicht nur europäische Kultur, Rinder und Rezepte haben die Flüchtlinge ins Land gebracht. Arturo Kirchheimer etwa gilt seit Anfang der 80er-Jahre auch als einer der „Väter des Tourismus“ auf der Insel.

Aufgrund von Artikeln und Fernsehberichten, die damals über ihn in der deutschen Presse erschienen, wuchs das Interesse an Sosúa sprunghaft. Kirchheimer erhält Anfragen von Abenteuertouristen, Aussteigern und Investoren. Er organisiert Zimmer und Kontakte. Der Run auf das Städtchen verändert innerhalb von wenigen Jahren das Gesicht des bis dahin verschlafenen Ortes. Heute bietet Sosúa allein 6.000 Betten, die riesigen „All inclusive“-Resorts drumherum nicht gezählt. Arturo Kirchheimer ist stolz darauf, dem Land, dem er seine Rettung verdankt, dabei geholfen zu haben, zu einem Zentrum des internationalen Tourismus zu werden. Dass es bei der Geschwindigkeit der Entwicklung noch Missstände gibt, hält er für natürlich. Doch die Zukunft des Landes liege nun mal im Tourismus. Warum? „Hier ist das Leben wie in einem Paradies. Hier scheint die Sonne den ganzen Tag und in der Nacht regnet es.“