Das „System Chirac“

Die Vorwürfe sind nicht neu, aber die Beteiligten aller Seiten haben bisher geschwiegen

PARIS taz ■ Alle schreien auf: „Verleumdung“, „Manipulation“, „Schmutzkampagne gegen Chirac“, „Gefahr für die Demokratie“ – aber niemand ruft nach Konsequenzen. Nach den Reaktionen der rechten wie linken politischen Spitzen in Paris zu urteilen, ist nicht etwa der Inhalt, sondern die Veröffentlichung der Videokassette mit den posthumen Enthüllungen eines der Finanziers der RPR eine verwerfliche Angelegenheit. Premierminister Jospin, der zum Zeitpunkt der inkriminierten Geldübergabe PS-Chef war, hat überhaupt „keinen Kommentar“ dazu. Und Justizministerin Guigou will nur „an die unabhängige Justiz“ übergeben.

Eine politische Kommentierung wagen nur Außenseiter. Und die Grünen, eine Partei, die es zum Zeitpunkt der auf dem Video erwähnten illegalen Parteienfinanzierung noch gar nicht gab. Sie fordern jetzt die Einrichtung einer parlamentarischen Untersuchungskommission. Ihr Bürgermeisterkandidat für Paris, Contassou, erklärte: „Diese Vorwürfe sind nicht grundsätzlich neu.“

Das stimmt. Wer sich mit dem „System Chirac“ befasst hat, das der jetzige Staatspräsident seit den Siebzigerjahren im Pariser Rathaus eingerichtet hat, kennt den schwerwiegenden Verdacht, dass dort fiktive Jobs und schwarze Kassen existier(t)en und dass Unternehmen, die einen Auftrag haben woll(t)en, quasi gezwungen waren (sind), die politischen Parteien zu beschenken.

Nur haben die Beteiligten aller Seiten bislang dazu geschwiegen. Nicht einmal jene Unternehmer, die sich weiger(te)n, die Rechnung zu erhöhen, um anschließend großzüger auszuteilen, gingen an die Öffentlichkeit. Es blieb bei anonymen Denunziationen und nachträglich zurückgezogenen Zeugenaussagen. Der Pariser Untersuchungsrichter Halphen, der seine Ermittlungen über die Schwarzkassen der RPR Ende der Neinzigerjahre ergebnislos einstellen musste, weiß davon ein Lied zu singen.

Juristisch verwertbar ist auch das jetzt veröffentlichte Video nicht. Sein Protagonist ist tot. Seine Aussagen können nicht mehr in Gegenüberstellung verifiziert werden. Und er behauptet auf dem Video exakt das Gegenteil dessen, was er zu Lebzeiten den Richtern gestand. Politisch aber kann das Video für Frankreich eine Wirkung entfalten wie die Aktion „mani pulite“ für das italienische System. Nachdem Richter Di Pietro 1992 ein Parteienfinanzierungssystem aufgedeckt hatte, das jenem in französischen Städten zum Verwechseln ähnelt, waren die großen Parteien der Nachkriegsgeschichte – von den Christdemokraten über die Sozialisten bis zu den Kommunisten – implodiert.

Im Unterschied zu Italien gibt es freilich gegenwärtig in Frankreich keine der Lega Nord vergleichbare populistische Kraft, die die richterlichen Ermittlungen aus ureigenem politischem Interesse unterstützen würde. Die rechtsextreme Front National, die sich an der Rolle der Saubermänner versucht hat, steckt in einer Krise und hat sich gespalten.

Dennoch könnten die Spitzen der gegenwärtigen französischen Politik ihrer eigenen Vogel-Strauß-Haltung zum Opfer fallen. Solange sie hartnäckig leugnen, solange es keine tief greifenden Untersuchungen gibt, wird der – politisch vergiftende – Verdacht bestehen bleiben. DOROTHEA HAHN