Genies soll man nicht aufhalten

Nach ihrem Sieg über 100 Meter liegt Marion Jones im Plansoll: Fünf Mal Gold und Imageaufbesserung sind weiterhin möglich

aus Sydney MATTI LIESKE

„Kann ich das nicht wenigstens ein paar Minuten lang einfach mal genießen“, seufzte Marion Jones, nachdem sie sich im Olympiastadion von Sydney jene Goldmedaille im 100-Meter-Sprint abgeholt hatte, die seit langem für sie reserviert war. Doch die Ungeduld der Journalisten, die längst schon wieder voraus schauten und nach den Schwierigkeiten fragten, die in den nächsten Tagen auf die 24-Jährige zukommen, hat diese sich selbst zuzuschreiben. Ihr seit zwei Jahren propagiertes Projekt, beispiellose fünf Goldmedaillen von den Olympischen Spielen 2000 nach Hause zu schleppen, lässt die eine am Samstag errungene geradezu läppisch erscheinen – ein guter Auftakt eben, mehr aber auch nicht.

Marion Jones selbst sieht das anders. Geradezu entrüstet reagierte sie auf die Frage, ob sie denn Kräfte gespart habe für die kommenden Aufgaben. „Das war das olympische 100-Meter-Finale. Da gibt man alles, was man hat.“ Nur zu gut weiß die US-Amerikanerin, wie leicht einem im Sport die Dinge entgleiten können, vor allem seit der WM 1999 in Sevilla, wo die angestrebten vier Goldmedaillen die Generalprobe für Sydney abgeben sollten. Am Ende blieb ihr nur der Sieg über 100 Meter, im Weitsprung wurde sie Dritte, im 200-Meter-Semifinale hielt ihr Körper dem Stress nicht mehr stand, sie sank mit Krämpfen im Rücken zu Boden und reiste bei Nacht und Nebel ab.

Mehr als ein kleiner Betriebsunfall, denn das Missgeschick von Sevilla zog nicht nur jene Häme nach sich, welche die Vermessenen ernten, wenn sie deftig auf die Nase fallen, es sorgte auch für ein miserables Image. Das ebenso brüske wie selbstherrliche Verhalten ihrer Entourage um 300-Pfund-Ehemann C. J. Hunter sowie der skandalumwitterte Abgang ließen die Popularitätswerte so stark sinken, dass Sponsor Nike mit einer einmaligen Notaktion eingriff. Das Unternehmen, von dem Jones eine Million Dollar pro Jahr erhält, beauftragte die renommierte PR-Agentur Bragman Nyman Caffarelli aus Beverly Hills damit, das Ansehen ihres Zugpferdes wieder aufzupolieren. Mit Erfolg. Die Agentur erteilte C. J. und Co. offensichtlich Anweisung, sich zurückzuhalten und das Feld allein der ebenso eloquenten wie charmanten Sprinterin selbst zu überlassen.

In Sydney präsentiert sich Marion Jones umgänglich und freundlich und sammelte bei der Eröffnungsfeier massenhaft Sympathiepunkte bei US-Teamkollegen, mit denen der Superstar fröhlich plauschte und scherzte. Die Sympathie der Konkurrentinnen hielt sich dafür in Grenzen, als Jones im 100-Meter-Finale so überlegen davonschoss, wie es nicht mal die berüchtigte Weltrekordhalterin Florence Griffith-Joyner 1988 in Seoul fertiggebracht hatte. Wäre Jones Australierin, würden überall in Sydney Plakate mit ihrem Konterfei und der Überschrift „Wie macht sie das nur?“ hängen, so wie es bei Ian Thorpe und seinen Schwimmerkollegen der Fall ist.

Wie immer es Marion Jones macht, Zeiten zu laufen, die nach Meinung fast aller Fachleute mit legalen Mitteln nicht zu schaffen sind, eines ist sicher: Sie besitzt erheblich mehr Talent als Griffith-Joyner, die jahrelang eine mittelmäßige Läuferin war, bis sie plötzlich begann, Fabelzeiten zu rennen. Jones dagegen war schon mit 16 so pfeilschnell, dass sie 1992 einen Staffelplatz im olympischen US-Team für Barcelona ergatterte. Den nahm sie jedoch nicht an, weil sie ihrer Ausbildung Vorrang einräumte. Dann spielte sie nur noch Basketball, wurde als Point Guard Collegemeisterin mit North Carolina und wandte sich erst 1996 wieder der Leichtathletik zu, nachdem sie Kugelstoßer C. J. Hunter kennen gelernt und mit ihm in Atlanta Olympialuft geschnuppert hatte. Dabei, so will es die Legende, hatte sie schon mit 8 Jahren, als sie Carl Lewis in Los Angeles vier Mal Gold gewinnen sah, auf eine Tafel geschrieben: „Ich werde Olympiasiegerin.“ Am Samstag in Sydney gab sie sogar noch 3 Jahre dazu. „19 Jahre glauben und träumen“, strahlte sie, „und am Ende ist alles wahr geworden.“ Alles? Immerhin fehlen noch vier Siege, und die in den beiden Staffeln sind nach Verletzungen von Teamkolleginnen wie Inger Miller nicht gerade näher gerückt. Am Mittwoch wird es wieder ernst, wenn am gleichen Tag die Vorläufe über 200 Meter und die Weitsprungqualifikation stattfinden. „Ich wünsche ihr viel Glück, denn ich würde es bestimmt nicht versuchen“, sagt reserviert Maurice Greene, der die 100 Meter der Männer am Samstag ebenso souverän gewann wie Jones die der Frauen. Er sei in Sevilla schon nach all den Läufen über 100 und 200 Meter sowie in der Staffel völlig kaputt gewesen.

Auch 400-Meter-Koryphäe Michael Johnson wundert sich, warum sie nicht einfach drei Goldmedaillen in Sydney und dann noch mal ein paar 2004 in Athen gewinnt. „Das wäre nicht mal annähernd Marion“, sagt Curtis Frye, ihr einstiger Coach in North Carolina, „sie ist ein Genie, und ein Genie hält man nicht auf, man applaudiert ihm.“