„Ich hatte Telefon“

taz-Serie „Zwischenzeiten“ (Teil 9): Potsdams Oberbürgermeister Platzeck kam per Zufall in die Politik. Seither bewährt er sich als Krisenmanager

Interview: PHILIPP GESSLER
und ROLF LAUTENSCHLÄGER

taz: Herr Platzeck, 1988 haben Sie gemeinsam mit anderen in Potsdam die Bürgerinitiative „Argus“ für Umweltschutz und gegen Stadtverfall gegründet. War das in jener Zeit gefährlich? Hätte das Ihre Karriere abrupt beenden können?

Matthias Platzeck: Karriere stand damals nicht auf dem Plan, insofern wäre nichts zu beenden gewesen. Ich hatte einen guten Job in Potsdam und musste mich um den Umweltschutz in der Stadt kümmern.

Was Ihnen aber wohl nicht reichte.

Zur „Argus“-Gründung führten andere Dinge: Wir hatten uns seit Jahren im Freundeskreis mit den Themen beschäftigt, die in der gesamten DDR auf der Tagesordnung standen, nämlich: Gibt es für diese Gesellschaft eine Perspektive? Bleiben wir hier oder nicht? Als sich herausstellte, dass der Hoffnungsschimmer Gorbatschow 1985/86 sich zu einem richtigen Silberstreifen entwickeln könnte, haben wir uns die Frage so beantwortet: Wir bleiben hier, aber wir wollen nicht nur meckern. Im Unterschied zu anderen Gruppen nahmen wir das DDR-Landeskulturgesetz und forderten ganz legal, das umzusetzen, was da zur Stadtgestaltung oder dem Umweltschutz drinsteht. Dieser Ansatz hat die Funktionäre vor Probleme gestellt.

War „Argus“ für Sie das Vehikel, in die Politik einzusteigen?

Für mich bedeutete die Besetzung Afghanistans durch die Sowjetunion der Beginn eines Politisierungsprozesses, weil das durch nichts mehr erklärbar war, außer durch schieren Machterhalt. So wuchs das. Außerdem war ich immer jemand, der etwas bewegen wollte und nicht nur zuschauen konnte. Und 1988 war der Punkt erreicht zu sagen: „Wir wollen jetzt einfach was machen.“

Wurden Sie daher 1989 an den Runden Tisch gewählt?

Sie werden es kaum glauben, es gab einen anderen, ganz simplen Grund: Ich hatte ein Telefon.

Ohne Telefon gäbe es also weder den Oberbürgermeister noch den „Deichgraf“ oder den SPD-Landeschef Platzeck?

Das kann man so sagen. Es fehlten aber auch Strukturen für lange demokratische Prozesse. Ich bin erster provisorischer Sprecher der Grünen Liga geworden, weil ich mal den Mund aufmachte. Da sagten alle, ja, mach das mal, außerdem wohnst du in der Nähe von Berlin und du hast ein Telefon. Das hat dazu geführt, dass ich an den Runden Tisch gewählt wurde. Hätte ich in Leipzig gewohnt und kein Telefon besessen, wäre vieles erst einmal anders gekommen.

Plädierten Sie am Runden Tisch sehr schnell für eine Vereinigung oder lag das jenseits aller Vorstellungen?

Ich gehörte zu denen, die sagten, lasst uns mal ruhig unser Ding machen. Das war natürlich blauäugig. Ich konnte mir nicht diesen perfekten Betrug über die angebliche Stärke der DDR-Wirtschaft vorstellen, sondern glaubte, dass wir im Konzert der Industrieländer einen Rolle spielen.

Aber woher kam dieser Glaube angesichts des wirtschaftlichen Niedergangs in der DDR?

Es wurde doch selbst vom Westen nicht bestritten, dass die DDR auf dem 10. Platz der Industrieländer rangiert. Dass wir so völlig nackt dastehen, stellte sich erst in den Wendewochen immer deutlicher heraus. Selbst die Aufgeklärtesten unter uns, die Gruppe um Jens Reich und Bärbel Bohley, hatten noch September 1990 verabredet, im Dezember zu sehen, was aus dem Aufruf des Neuen Forum wird, und wollten dann die Strategie für die nächsten Jahre festlegen. Die Zeiträume waren im Hinterkopf völlig anders als die realen Abläufe. Wir haben völlig unterschätzt, dass die Mehrheit der Leute andere Ziele hatte.

Hat sich in Ihrer Zeit in der Regierung Modrow die Einsicht zur Vereinigung beschleunigt?

Ein prägendes Erlebnis war für mich der Besuch der Leipziger Messe 1990 und die Gespräche mit Wirtschaftsleuten. Da stellte sich selbst bei einem wirtschaftspolitischen Laien das Gefühl ein, das geht nicht mehr lange. Für das, was noch in den letzten Monaten der DDR gefeiert wurde, der Megabitspeicher, „unsere Errungenschaft“, hatte jeder Westler nur ein Grinsen übrig.

Ihnen wird zugute gehalten, dass Sie in der kurzen Zeit als Minister unter Modrow große Teile der DDR unter Landschaftsschutz gestellt haben und dies in den Einigungsvertrag übernommen wurde.

Das Verdienst gebührt Michael Succow und seinen Leuten, der im Januar 1990 ins damalige Umweltministerium einzog. Wir haben sein Programm lediglich politisch flankiert und die Möglichkeit geschaffen, dass die arbeiten konnten. Mein Part als Umweltminister von Brandenburg war dann, dieses Nationalparkprogramm zu übernehmen, es auszubauen und 1997 abzuschließen.

Erstaunt es Sie im Nachhinein, dass die Bürgerrechtler so schlecht bei der Volkskammerwahl abgeschnitten haben?

Wir rechneten mit über 10 Prozent. Als die Zahlen eintrudelten mit zwei, ein und weniger Prozent, fielen wir aus allen Wolken.

Woran hat’s gelegen?

Wir haben es nicht geschafft, Demokratie Jetzt, Neues Forum, die Grünen, den Frauenverband zu einer Gruppierung zu vereinen. Einer der Hauptpunkte war der Slogan: „Kein Anschluss unter dieser Nummer“. Wir haben nicht gemerkt, dass die Leute nicht mehr das, sondern möglichst schnell die Vereinigung, Sicherheit und Westgeld wollten. Hinzu kam der intellektuelle Habitus vieler von uns oder die internen Streitigkeiten. Wir haben Parteitage hingelegt, wo viele Normalbürger sagen: „Na ja, nicht mein Ding.“

Also alles Indizien, die für ein Scheitern sprechen.

Unser Ansatz kam, wie man so schön sagt, nicht gerade aus der Mitte des Lebens und hatte sicher Bestandteile, die noch nicht in die Welt passen: Bürger- und Basisdemokratie. Das Wort Macht durfte man damals nicht mal aussprechen. Das war ein Unwort. Der dritte Punkt war, dass wir zwar wussten, wogegen wir sind, aber nicht klar war, wofür wir sind und wie wir das umsetzen wollen. Schließlich verfolgten die Bürgerrechtler keine gemeinsame Linie oder Interessen. Bei der Landtagswahl für Brandenburg 1990 haben Günter Nooke, Marianne Birthler und ich so Wahlkampf gemacht. Heute ist Nooke in der CDU, Birthler bei den Grünen und ich in der SPD. Meiner Meinung nach hat der Ausdifferenzierungsprozess schon damals begonnen.

Sind Sie enttäuscht, wenn Sie die Entwicklung Ihrer Weggefährten anschauen?

Nein. Ich habe etwa Günter Nooke schon 1990 gesagt, ich wette, dass er bei den Konservativen landet, weil er es einfach ist. Günter Nooke ist ein Wertkonservativer, was ja erst einmal auch nichts Ehrenrühriges ist. Und mir hat Joachim Gauck einmal 1990 in der Volkskammer gesagt: „Warum bist du eigentlich bei uns und nicht bei den Sozis. Bist doch einer.“

Das bedeutet Abschied von der Vergangenheit und von gemeinsamen Positionen. Macht Ihnen das nichts aus?

Ich sehe an mir selber, dass ich manches, was ich 1990 oder 91 von mir gegeben habe, entweder naiv finde oder auch falsch. Aber die Art, Politik zu machen, hat sich bei mir nicht groß geändert. Ich war immer jemand, der gern mit Menschen was gemacht hat, der nicht nur am Schreibtisch aus der Aktenlagen entschieden hat, sondern viel draußen ist; noch heute und schon als Umweltminister.

Warum haben so wenige Bürgerrechtler den Sprung in die Bundespolitik geschafft?

Ich weiß es nicht. Manche sagen: zu freundlich. Andere meinen: dieses Machtproblem, was ich vorhin ansprach, ist der Grund, dass es viele nach wie vor als unanständig finden. Manche sind auch ein bisschen verbittert, verbiestert. Bei manchen fehlt die Geduld. Das habe ich auch bei Kollegen erlebt, dass sie denken, das müsste alles viel schneller gehen. Demokratie ist nun mal mühsam.

Ihre Weggefährtin Marianne Birthler ist Anfang der Neunzigerjahre wegen der Stasi-Affäre Stolpe ausgestiegen. Haben Sie das damals auch erwogen?

Nein. Aber wir haben über Manfred Stolpe schon geredet, bevor es kulminierte und 1993/94 zum Bruch der Koalition führte. Ich habe sowohl Marianne Birthler wie Günter Nooke gesagt, in dem Punkt sehe ich die Welt einfach anders. Viele von uns trugen damals die Telefonnummer von Stolpe in die Tasche und haben gesagt: „Wenn es mal brenzlig wird. Wenn ihr mal ein Problem habt. Wenn in eurer Bürgerinitiative mal einer verschwindet, dann gibt es da so einen Konsistorialpräsidenten, ruft den an. Der konnte bisher immer helfen.“ So blöd waren wir alle nicht, dass wir dachten, der redet mit dem lieben Gott, wenn da jemand im Stasi-Gefängnis sitzt und der ihn wieder rausholt. Dieses 1989 zu akzeptieren, und dann plötzlich 1990 zu sagen: „Was, der hat mit denen geredet?! Das ist ja unerhört!“ Das passt nicht in mein Verständnis von Fairness.

Stolpe hat aber mehr als nur geredet. Tatsache ist, dass er einen Orden von der Stasi erhalten hat – wie auch immer.

Glauben Sie.

Er hat ihn bekommen. Es ist nur die Frage, ob er ihn selber in die Hand bekommen hat.

Sagen Sie. Die Rolle Manfred Stolpes war singulär. Den Konsistorialpräsidenten im Osten, den gab es eben nur einmal. Wenn es sie nicht gegeben hätte, hätte sie gefehlt. Ich finde da auch die Bischöfe nicht ganz konsistent. Die hätten auch wissen müssen, was er macht. Die waren froh, dass sie ihn nicht fragen mussten.

Ein Blick in die Zukunft: Sie gelten als ein Hoffnungsträger der SPD. Sehen Sie sich selber als einer?

Können Sie sich vorstellen, dass man das irgendwann nicht mehr hören kann?

Das schmückt einen doch.

Das hat alles seine Zeit.

Dann sind Sie immer noch Hoffnungsträger.

Ich bin seit zwei Jahren hier Oberbürgermeister. Das ist ein schöner Job. Das ist ein harter Job. Das ist sehr direkte Politik, da ist keine Ebene mehr dazwischen. Es gibt nichts mehr, wo man was hindelegieren kann. Das füllt mich voll aus. Ich möchte den Job gern gut machen. Den Ehrgeiz habe ich.

Wann wechseln Sie in die Bundespolitik?

Kann ich mir nicht vorstellen.

Und in die Landespolitik?

Nicht mein Thema im Moment. Ich bin doch gerade von der Landespolitik vor zwei Jahren in die Kommunalpolitik gegangen.

Aber Sie sind SPD-Landesvorsitzender.

Richtig.

Und warum können Sie sich einen Wechsel in die Bundespolitik nicht vorstellen?

Weil ich in einer Notsituation das Versprechen abgegeben habe und gesagt habe, weil es auch meine Heimatstadt ist, dass ich mich um diese Stadt mit dem, was mir zur Verfügung steht, mit aller Kraft und Nerven, kümmern werde. Wir haben zum Beispiel im nächsten Jahr die Bundesgartenschau, wo wir zwei bis drei Millionen Leute erwarten. Wir haben noch viele Stadtentwicklungsprobleme, die gerade mal angeschoben sind. So etwas ist nicht in zwei Jahren erledigt.

Aber wenn Sie in drei oder fünf Jahren die PDS in die Ecke gedrückt haben, dass sie da nicht mehr rauskommt: Wäre es dann vorstellbar?

Schöne Vorstellung. Zweiter Punkt ist, dass ich – das mögen Sie schön provinzell finden –Brandenburg und Potsdam sehr verhaftet bin. Und jeder muss für sich auch aus dem Bauch heraus empfinden: Was kann er, was kann er nicht. Ich habe da keine Interessen oder spüre auch in mir nichts, was mich da hintreibt. Ich sage mal ein bisschen verkürzt: Dann hätte ich das auch schon machen können.

Ein Interesse, Stolpe zu beerben, haben Sie auch nicht?

Das habe ich ja nicht gesagt. Aber ich habe gesagt, das ist nicht mein Thema. Der ist unser Ministerpräsident. Der ist ein guter, und Sie sehen ja die Umfragen. Das Volk liebt ihn. Dann ist die Welt doch in Ordnung.

Sie waren ursprünglich gegen die Fusion von Berlin und Brandenburg. Wann sind die Brandenburger so weit, die Fusion noch einmal in Angriff zu nehmen?

Ich könnte mir vorstellen, aber das ist wirklich völlig fiktiv, dass es in zehn Jahren so weit ist, dass man sagen kann: Jetzt erkennen wir die Chancen. Und die gibt es ja real. Aber das wurde ja schon hundert Mal geschrieben, dass wir eigentlich zusammengehören. Man kann ja an Wirtschaft, Verwaltung und vielen anderen Dingen sehen, was da schon zusammen wächst und sich verschränkt. Wir müssen es dieses Mal schaffen, den Zeitpunkt so zu legen, dass wir an die Herzen rankommen. Wenn das schief geht, haben wir für lange Zeit keine Fusion mehr.

Sie haben mal gesagt, ein Traum von Ihnen sei, eine Kneipe aufzumachen mit gutem Bier und guter Musik. Sie gehen nicht in die Bundespolitik – wann kommt die Kneipe?

Ja, da denke ich auch schon öfter drüber nach. Inzwischen hat dieser Plan schon Weiterungen gefunden. Ein Freund von mir und mein ehemaliger Staatssekretär, Rainer Speer, hat sich bereit erklärt, weil er so gerne kocht, dass er bei diesem Projekt als Koch zur Verfügung stünde. Wir sind also jetzt schon zwei. Jetzt suchen wir noch ein bisschen rum, und wenn das Team komplett ist, dann machen wir das.