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: Metaphysik des Turnens

Maegerlein lebt

Beim olympischen Turnen scheinen etliche Darbietungen die Gesetze der Newtonschen Physik arg verhöhnen zu wollen. Turner können, was sonst fast keiner – manchmal sogar keiner – kann. Kunstturnen ist: qualitativer Sport. 100 Meter weit laufen kann jeder gesunde Mensch, das ist eben keine Kunst. Hier geht’s nur um die Menge der dafür verbrauchten Zeit: quantitativer Sport.

Den Hegelschen Umschlag von Quantität in Qualität gibt’s selbstredend nicht bei den Läufern, sondern bei den Turnern. In Australien überzeugten vor allen anderen Larissa Latynina und Heinz Maegerlein – die eine am Stufenbarren, der andere am Mikrofon. Nicht in Sydney 2000, sondern in Melbourne 1956. Beide gab’s jetzt in einem Rückblick zu bewundern: Bei Latyninas Stufenbarrenvortrag eröffnete Maegerlein uns Zuschauern Momente des Begriffs Kunst im Kunstturnen, die weniger mit Können, sondern mehr mit Schönheit zu tun haben. Nach heutigen Maßstäben lag das, was die gute Larissa bot, schon hart an der Lächerlichkeitsgrenze. Damit wäre heute kein Schulwettkampf mehr zu gewinnen. Aber hätte das dann Maegerleins entrückte Kommentare geerntet? Wären Worte gefallen wie Anmut, Harmonie, Eleganz, Grazie? Für Maegerlein wurde in Latyninas Stufenbarrenübung die Idee der Schönheit sinnlich wahrnehmbar. (Und Hegel? Schönheit ist das sinnliche Scheinen der Idee.)

Das Turnen hat’s faustdick hinter den Ohrmuskeln. Auch was das Religiöse betrifft. Denn dass Turnen subversiver Ausdruck einer tiefen Religiosität ist, demonstriert schon der blasphemische Kreuzhang an den Ringen: Gotteslästerung ist das. Wie in der schwarzen Magie werden hier der offziellen Kirche archaische Formen von Religion entgegengesetzt, voll von eisernen Ritualen und Zauberei.

Auch der Schwebebalken. Reine Zauberei: Man denkt an schwebende Jungfrauen unfehlbarer Magier! Oder die Impertinenz, mit der der Stufenbarren die horizontale Ausgewogenheit des Barrens verhöhnt: echt schräg! Es liegt, besser: steht auf der Hand, dass dies das Prinzip des Flickflacks ist. Diese Figur könnte unendlich weitergetanzt werden, ohne den engen magischen Raum zu verlassen.

Ich warte noch auf die rückwärts getanzte Riesenfelge – als Arbeitsplatzbeschaffungsmaßnahme für Unfallchirurgen. Dann der Abgang vom Reck: Schraubensalto zum Stand. Warum nicht mal rückwärts? KLAUS MACKOWIAK