Stadt auf den Beinen

Statt die Hauptstadt ins Chaos zu stürzen, sorgte der Lkw-Protest gestern für eine verkehrsberuhigte Zone Berlin. Die Aktion gegen die Ökosteuer wurde zur Manifestation für den Verzicht aufs Auto

Der Tag fängt gut an. Als die Hundehalterin Gabi T. um 8 Uhr morgens mit ihrem Cockerspaniel auf die Hauptverkehrsstraße tritt, glaubt sie, sie habe sich im Tag geirrt. Aber es ist nicht Sonntag, sondern Dienstag. Frau und Hund flanieren über die Straße.

8.00 Uhr, Invalidenstraße. Über die ansonsten viel befahrenen Ost-West-Verbindung durch die nördliche Mitte weht ein lauer Herbstwind. Gelegentlich kommt auch ein Auto vorbei.

8.15 Uhr, U-Bahnhof Friedrichstraße. Die Züge der Linie 6 sind ein wenig voller als sonst üblich. Unüblich viele Anzüge dagegen präsentieren sich an ihren Trägern, Aktenkoffer besetzen die Plätze.

8.30 Uhr in der S 3 Richtung Westkreuz kurz vor dem Bahnhof Zoo: Aufgeregt späht eine ältere Frau nach der Brummi-Schlange. „Da ist die rechte Spur frei“, informiert sie ihre Arbeitskollegen. „Von dort ab können wir den Bus nehmen.“

8.45 Uhr, die Friedrichstraße am S-Bahnhof ist rappelvoll. Auf der ersten offenen Nord-Süd-Verbindung östlich der Trucker-Demo quetschen sich die Autos einspurig durch die Baustellen. Die Fahrer blicken etwas verzweifelt.

Auch ein Lkw steht im Stau. Auf dem von der Polizei gesperrten Boulevard Unter den Linden genießen Pulks mit mehr als 20 Radlern die große Freiheit und fahren auf der Straße Slalom. Auch Fußgänger spazieren über die Fahrbahn.

8.50 Uhr, Radisson-Hotel, Karl-Liebknecht-Straße Ecke Spandauer. Ein kleiner grünweißer Golf bildet eine Vorsperre in Richtung Brandenburger Tor. Der Verkehr verläuft geordnet, wer will, kommt durch – wenn er kein Trucker ist.

9.45 Uhr, Ernst-Reuter-Platz, gefunden. An der alleinigen Zufahrt zum Veranstaltungsort ist es dann, das Treffen der „Melkkühe der Nation“. Superstau. Hupkonzert. Radfahrer grinsen. Ein Passant in feinem Zwirn scheint angetan. „Sehr gut“ findet Dieter Fuchs die Aktion, denn die Ökosteuer ist „beschissen“. Der Chef einer Versicherungsfirma hat selbst vier Autos. Lagebericht der Polizeioberkommissarin Gaby Kobbe: „Die Avus ist seit 9.30 Uhr wieder frei und auf dem Kurfürstendamm läuft der Verkehr“.

9.50 Uhr, Brummi-Blockade in Berlin? Im Verbindungstunnel zwischen der U 2 und der U 6 steht heute ein älteres Musikantenpaar. Den U-Bahn-Musikern ist der LKW-Protest nicht Unrecht. Heute sammelt sich mehr Silbergeld in den Instrumentenkoffern.

9.50 Uhr, U-Bahnhof Friedrichstraße. Ein Mann im beigen Karo-Sakko liest den englischen Guardian. An anderen Tagen ist er immer mit dem Auto unterwegs, zum Außendienst: Kundenbetreuung in ganz Berlin-Brandenburg. „Heute besuche ich eben nur die Kunden in Berlin“, sagt er entspannt.

10.00 Uhr, vor dem Bahnhof steckt ein schwarzer 5er-BMW im Verkehr fest. Vorne der Chauffeur, hinten ein Geschäftsmann, der die gleiche Geschäfts-Uniform wie drei gut gelaunte Neu-U-Bahn-Fahrer in der U 6 trägt. Nur die gute Laune hat er nicht.

11.45 Uhr, Rosmarin- Ecke Friedrichstraße.

Ein Gebäudereiniger putzt die Säulen vor der Buchhandlung Hugendubel. „Heute muss irgendetwas los sein“, wundert sich der Mann über die vielen Fahrräder vor dem Laden. Es sind 36 an der Zahl. „Normalerweise stehen hier höchstens 8.“

11.55 Uhr, die Straße gehört den Fußgängern. Nur vereinzelt sammeln sich auf der Leipziger drei, vier Autos an den Ampeln. Ein Taxifahrer am Spittelmarkt steht vor seinem Fahrzeug und beobachtet die Szenerie: „So leer war die Straße noch nie, offenbar sind alle auf die BVG umgestiegen“, sagt er, „eigentlich sollte es so was öfter geben.“

12.30 Uhr, die Straße des 17. Juni gleicht einem Parkplatz an einer Autobahnraststätte. Stoßstange an Stoßstange stehen die Lkws bis hoch zum Theodor-Heuss-Platz. Auf der Straße, wo sonst der Verkehr donnert, ist es mucksmäuschenstill. So still, dass man das Keuchen der Jogger im Tiergarten hören kann.

12.45 Uhr, ein SFB-Team hat sich beim Milchkaffee aus dem Café Viktoria vor der Siegessäule niedergelassen. Alle Stunde müssen sie für ein paar Minuten auf Sendung gehen. „Dabei ist hier überhaupt nix los.“

13.00 Uhr, an der Weidendammer Brücke steht eine Wanne und beobachtet den Verkehr. Auch hier scheint es, als ob die Brummi-Blockade nur ein Fake gewesen wäre. So weit das Auge blickt, keine Lkws und auch deutlich weniger Pkws als sonst.

13.00 Uhr, kurz vor dem Ernst-Reuter-Platz. Neben einem Polizisten auf einem Motorrad hält ein weißer Mercedestransporter. Ein junger Mann springt heraus und stopft dem Beamten eine Schrippentüte in die Motorradtasche. „Nehmen Sie nur, nehmen Sie nur“, nötigt er den Polizisten. Mercedes-Benz macht’s möglich. 15 jungdynamische Teams sind mit je 350 Carepaketen für die Streiker und die Ordnungshüter unterwegs.

13.25 Uhr, der Parkplatz vor dem Messegelände am Funkturm ist trotz Computermesse so gut wie leer. Normalerweise stapeln sich hier die Autos. Der Wachtposten weiß es zu schätzen. Den Krimi „Schlüssel der Dunkelheit“ hat er fast durch.

15.10 Uhr, vor dem KaDeWe wartet der Taxifahrer Frank Heinlein in seiner Droschke auf Kundschaft.

Er ist von dem Tag sehr zufrieden. „Mehr Kunden, viel weniger Verkehr und besseres Durchkommen“, lautet seine Bilanz. „Na bitte, es geht doch mit weniger Autos“, sagt er. Ein Freund des Lkw-Streiks ist er nicht: „Das sind rollende Lagerhallen, die ohne Sinn und Verstand hin und her fahren.“

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