Deutsche Kastanienmafia

Tabuthema „Kindergartenarbeit“ wird totgeschwiegen

MÜNSTER taz ■ Sahra ist vier Jahre alt und schmächtig. Tiefe Ringe zeichnen sich unter ihren großen Kinderaugen ab. Schon am frühen Morgen um 10.30 Uhr sieht man sie in gebückter Haltung durch den münsterschen Südpark streifen. Sahra muss für den anliegenden Kindergarten Kastanien sammeln. Sie arbeitet für die Kastanientierchen-Industrie. Fünf Stunden täglich, fünf Tage in der Woche, vier Wochen im Monat muss sie Kastanien sammeln, Eicheln auflesen, Streichhölzer brechen, Löcher bohren ... Als Lohn erhält sie jeden Mittag eine Schale Gemüsebrei. Sahras Schicksal ist leider kein Einzelfall. Nach Schätzungen internationaler Kinderhilfsorganisationen gibt es in Deutschland etwa fünf Millionen Kinder unter sieben Jahren, die während der Herbstsaison in ihren Kindergärten viele Stunden für gar kein Geld und unter schrecklichen Bedingungen, die ihrer Entwicklung schaden, für die Kastanientierchen-Industrie arbeiten müssen. Die fertigen Produkte werden dann zu hohen Preisen auf den unzähligen Herbstbasaren verkauft. Kindergarten-Kinder sind für die Kastanientierchen-Herstellung wegen ihrer kleinen geschickten Hände besonders geeignet. In Anbetracht dieses Faktors, der die Kinderarbeit verursacht, scheint deren Bekämpfung fast unmöglich. Nur mit Hilfe eines radikalen Ansatzes ließe sich die ausbeuterische Form der Kinderarbeit in der Kastanientierchen-Industrie verringern.